»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Augustin
Der junge Dichter schreibt zurück an R.
Spät kommt mein Dank für Ihren liebenswerten Brief,
der mich erst jetzt erreicht, nach einer halben Ewigkeit.
Das Dichten, wissen Sie, hab’ ich inzwischen aufgegeben
und arbeite als Koch. Wenn Sie mal in der Gegend sind,
dann schaun Sie bitte bei uns rein!
PS:
Von meinen Wildpastetchen sagt man, sie seien ein Gedicht.
© Michael Augustin, Bremen
+ Zu Original und Hintergrund
Dieser lyrische Versverbund, der mit seiner Prosanähe spielt und so noch trefflicher in seiner Vorgaukelei, ein Brief zu sein, schillern kann, bezieht sich auf Rainer Maria Rilkes »Briefe an einen jungen Dichter«. In jenem nach Rilkes Ableben veröffentlichten Briefwechsel, der sein größter Buchverkaufserfolg werden sollte, gibt Rilke dem Nachwuchspoeten Franz Xaver Kappus, der sich an ihn, den Großmeister der Dichtkunst, gewandt hatte, allerlei Ratschläge. Allgemein und gerade im Kontext zur Michael-Augustin-Replik besonders bemerkenswert: Dabei kritisiert er nicht direkt dessen Texte, sondern weist vor allem auf die Fülle an Möglichkeiten hin, die das Leben allgemein bietet – freilich ursprünglich, um zu deren poetischer Verwertung aufzurufen und nicht um vom Dichten abzubringen; doch wessen Intention, so meisterlich sie auch sein mag, wird schon immer gefolgt?
Eine weitere herrliche Doppelbödigkeit (neben der eben genannten und einigen weiteren, wie etwa der Schlusspointe, der augenzwinkernden Gleichsetzung von Dicht- und Kochkunst) erhält der Text dadurch, dass Augustin selbst längst ein Grandseigneur der Poeterei ist und manch ein Nachwuchsdichter von ihm gerne wissen würde wollen: Meister, wie macht man das (mit den Versen und allem)? Er verkehrt hier also im lustvollen Spiel die Perspektiven, wenn er, Jahrgang 1953 und längst unlösbar mit dem Dichterstand verbunden, in Ich-Form aus der Perspektive des (ehemals) aufstrebenden Jüngeren schreibt und sich gerade nicht jene des arrivierten Älteren zumutet.
Besonderes inhaltliches Gewicht und eine exzellente Eignung für diese Jubiläumsfolge, die Nummer 250 der »Gedichte mit Tradition«, ergeben sich überdies dadurch, dass man mit der Augustin-Antwort eines Nachwuchsdichters auf grundlegende poetische Fragen kapriziert wird: Wozu eigentlich das Dichten? Und wenn nicht, wie dann genau?
+ Zum Autor
Michael Augustin, 1953 in Lübeck geboren, studierte in Kiel und Dublin irische Literatur und Volkskunde und lebt in Bremen. Er schreibt Gedichte, Minidramen und Kurzprosa sowie Lyrik für Kinder. Seine literarischen Arbeiten, Collagen und Zeichnungen erscheinen weltweit in Zeitschriften. Zuletzt erschienen sind: zwei Gedichtbilderbücher, »Hier kommt der stärkste Mann der Welt« (illustriert von Sabine Kranz, S. Fischer 2021) und »Das Auqarium bleibt heue geschlossen« (illustriert von Andrea Ringli, Thienemann 2023) sowie im irischen Verlag Redfoxpress ein Band mit Collagen: »Herring & Smelt« (2021).
Für viele Jahre hat er bei Radio Bremen als Feature-Autor und Redakteur gearbeitet und sich dabei intensiv mit der Präsentation von Lyrik aus aller Welt befasst. Er war Direktor des Festivals »Poetry on the Road«, sowie Kurator der internationalen Literaturkarawane »What is Poetry?« in Indonesien, Südafrika und Simbabwe.
Augustins Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, und er war Gast auf Poesiefestivals in aller Welt. Ausgezeichnet wurde er mit dem Friedrich-Hebbel-Preis, dem Kurt-Magnus-Preis der ARD und Ende 2021 mit dem Premio Casa Bukowski Internacional de Poesía. Er ist Honorary Fellow der Universität Iowa und am Dickinson College in den USA und war Writer in Residence an der Universität Bath in England und im Heinrich-Böll-Cottage in Irland. Er ist Mitglied des PEN.
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.