»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Augustin
Immer wenn
Immer wenn
über allen Gipfeln
Ruh ist
streiken grad die
Fluglotsen
Immer wenn
in Jericho
konzertiert wird
darf der Trompeter
nicht mitspielen
Immer wenn
der Pauker
RUHE ruft
brüllt er
am lautesten
© Michael Augustin, Bremen
+ Zu Original und Hintergrund
Der Ausgangspunkt für das virtuos mit Erwartungen rund um akustische Lagen spielende komische Gedicht »Immer wenn« von Michael Augustin ist zweifellos das bekannteste Wald- und Ausflugsgedicht deutscher Zunge, nämlich Goethes »Wanderers Nachtlied« (das selbiger einst, als Gelegenheitsgedicht erdacht, in erster Fassung während eines mehrtägigen Waldausflugs auf die Holzwand einer Hütte schrieb).
Von da ausgehend bezieht Augustin sich noch auf eine weniger lyrische, dabei aber zweifellos auch literarisch hoch bedeutsame Schrift der Weltgeschichte, nämlich die Bibel: Ihr zufolge konnte die Stadt Jericho durch Josua und die seinen erobert, geplündert und niedergebrannt werden, da sie mit Trompeten ihre Mauern zum Einstürzen brachten (am siebten Tag ihres Einsatzes und unterstützt von reichlich Feldgeschrei; die Blasinstrumente werden dabei auch gerne mal als Posaunen übersetzt).
Und zum Abschluss spiegelt das Gedicht mit seiner Pauker-Strophe pointiert eine gewiss so persönliche wie auch allgemeine Lebenserfahrung. Situation und Essenz haben natürlich ihren Widerhall auch in zahlreichen Schriftstücken und Filmen gefunden (man denke nur an Hermann Hesses »Unterm Rad« oder an Robert Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« sowie an die »Lümmel«-Filmreihe aus der Bonner Republik oder den »Fack ju Göthe«-Kosmos, der immer noch erweitert wird). Wobei hier aber kein konkretes literarisches Vorbild auszumachen für die Gedichtstrophe Augustins auszumachen ist oder benötigt wird.
Johann Wolfgang von Goethe
Wanderers Nachtlied
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
+ Zum Autor
Michael Augustin, 1953 in Lübeck geboren, studierte in Kiel und Dublin irische Literatur und Volkskunde und lebt in Bremen. Er schreibt Gedichte, Minidramen und Kurzprosa sowie Lyrik für Kinder. Seine literarischen Arbeiten, Collagen und Zeichnungen erscheinen weltweit in Zeitschriften. Zuletzt erschienen sind: zwei Gedichtbilderbücher, »Hier kommt der stärkste Mann der Welt« (illustriert von Sabine Kranz, S. Fischer 2021) und »Das Auqarium bleibt heue geschlossen« (illustriert von Andrea Ringli, Thienemann 2023) sowie im irischen Verlag Redfoxpress ein Band mit Collagen: »Herring & Smelt« (2021).
Für viele Jahre hat er bei Radio Bremen als Feature-Autor und Redakteur gearbeitet und sich dabei intensiv mit der Präsentation von Lyrik aus aller Welt befasst. Er war Direktor des Festivals »Poetry on the Road«, sowie Kurator der internationalen Literaturkarawane »What is Poetry?« in Indonesien, Südafrika und Simbabwe.
Augustins Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, und er war Gast auf Poesiefestivals in aller Welt. Ausgezeichnet wurde er mit dem Friedrich-Hebbel-Preis, dem Kurt-Magnus-Preis der ARD und Ende 2021 mit dem Premio Casa Bukowski Internacional de Poesía. Er ist Honorary Fellow der Universität Iowa und am Dickinson College in den USA und war Writer in Residence an der Universität Bath in England und im Heinrich-Böll-Cottage in Irland. Er ist Mitglied des PEN.
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.