»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Ralph Grüneberger
Die Scherbelberger
Musikanten spielen
Über allen Gipfeln ist Ruh
Kaum spürest du
Daß Vöglein ausbleiben
Gras, giftgrün
Im Juni, braun im August
Seltene Blüten treibt.
Du schweigst
Trinkst, ißt, wartest
Balde.
© Ralph Grünebeger, Leipzig
+ Zu Original und Hintergrund
Kurz zum historischen Hintergrund: Scherbelberg wird von Leipzigern jene kleine Erhebung genannt, die offiziell Rosenthalhügel heißt und von 1887 bis 1896 als Hausmülldeponie erwachsen ist, später begrünt wurde und bis heute ein wichtiges Ausflugsziel zur Naherholung darstellt. Eine Musikgruppe mit dem Namen »Scherbelberger Musikanten« gab es zudem wirklich, sie entstand aus dem Rundfunk-Blasorchester Leipzig heraus und war als eine von mehreren kleinen Blasmusikgruppen des DDR-Rundfunks außerordentlich bekannt.
Die literarische Vorlage für Grünebergers Gedicht von 1989 liefert – formal, inhaltlich, sprachlich leicht erkennbar – das vielleicht populärste Gedicht deutscher Zunge: Goethes »Wanderers Nachtlied«. Vordergründig ist jenes ebenfalls nur eine Ausflugsimpression. Und doch verweist es, wie Grünebergers Nachbild, ganz klar auf viel mehr, auf Grundsätzliches, Existentielles, vor allem auf die alles bestimmende Vergänglichkeit – die immer auch Aufbruch meint.
Johann Wolfgang von Goethe
Wanderers Nachtlied
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
+ Zum Autor
Ralph Grüneberger wurde 1951 in Leipzig geboren, wo er auch heute noch lebt und schreibt. Nach einer Fräserlehre Studium am »Johannes R. Becher«-Literaturinstitut in Leipzig. Seit 1978 zahlreiche Veröffentlichungen: Liedtexte, Lyrik, Literaturkritik, Kinderbuch, Prosa und Publizistik. 2006 begründete er das »Poesiealbum neu«, dessen verantwortlicher Redakteur er bis 2021 blieb. Bis dahin war er auch 25 Jahre Vorsitzender der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik, die das »Poesiealbum neu« bis heute herausgibt und der er als Ehrenvorsitzender weiterhin angehört. Grüneberger ist zudem Mitglied des PEN.
Er hat etliche Stipendien erhalten (etwa die Aufenthaltsstipendien für Schreyhahn vom Land Niedersachsen 2006 und fürs ungarische Pécs von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen 2017) und wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. erhielt er 1986 den Debütpreis des Schriftstellerverbandes der DDR sowie 2006 den Menantes-Preis für erotische Dichtung. Veröffentlichungen in deutschsprachigen Anthologien und Zeitschriften (wie »Sinn und Form«, »Das Gedicht«, »Die Horen«, »Ort der Augen« und »Signum«) sowie in vergleichbaren Publikationen etwa in Frankreich, Mexiko, USA, Griechenland, Rumänien, Russland. Dazu auch internationale Lesereisen und Poesiefestivalteilnahmen.
Rund drei Dutzend Solo-Titel sind von Grüneberger bislang erschienen, zuletzt etwa die Romane »Herbstjahr« (2019) und »Lisa, siebzehn, alleinerzogen« (2022), der Erzählband »Leipziger Geschichten« (2020) und der Kulturführer »Lieblingsplätze Sachsen« (2022; alle Gmeiner). Die jüngsten Lyrikbände von ihm sind »Mit Mick Jagger in Plagwitz« (Leipzig-Gedichte, mit Zeichnungen von Heinz Müller, Edition Kunst & Dichtung 2015) und »Bienen über Brooklyn« (mit Holzstichen von Bettina Haller, Sonnenberg-Presse 2016).
www.RalphGrueneberger.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.