»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Ralph Grüneberger
Wir, die Nachundnachgeborenen
die wir die schwarzen Wälder lichten
Und die Vorstädte aufhäusern
Nehmen den Tag als gegeben
An dem wir unter die Leute kamen.
I
Wir haben, sowie man uns
Mit der Nase drauf stieß
Eine jede Brust geleert
Die sich uns bot
Um hernach, gesättigt
Die Zähne zu zeigen.
Wir haben, kaum
Daß wir des Mundwerks mächtig waren
Die Brote gegessen
Die wir nicht belegt haben
Um uns, gestärkt
Den Ranzen vollzuschlagen
Mit allerlei Wissen
Bis daß wir schieflagen
Im Wind. An Ventilatoren
Haben wir uns aufgerichtet und
Offene Geheimnisse gelüftet
Wie Käseglocken.
Zuzeiten der Prüfungen garnierten wir
Unsere Zungen und sprachen
Über den Hunger mit
Vollen Backen.
II
Und später, als wir zu den Nachgewachsenen zählten
Stellten Vorgeborene uns an
Maschinen, sie zu bedienen
Sie teilten uns in Schichten auf
Wie die Saldos
Auf unseren Konten.
So lernten wir
Uns zu vergleichen.
III
Indes haben wir
Mehr Schuhe als Anschriften gewechselt
Und unsere Wünschelruten
Begraben in Vorgärten
Die wir eingezäunt haben
Wie unsre Gedanken
Und setzen wir unsere Hintern
In unsere Häuser, legen wir
Die gekrümmten Hände auf
Die gekrümmten Lehnen und
Gedenken unsrer
Mit Nachsicht.
Wir, die wir die Fabriken
Und Schöße bevölkern
Und kollektiv den freund
Lichen Boden ausbeuten
Haben andere
Aus uns in die Welt gepreßt
Andere, die so anders
Anders nicht sind.
© Ralph Grünebeger, Leipzig
+ Zu Original und Hintergrund
»Wir, die Nachundnachgeborenen« von Ralph Grüneberger schließt unmittelbar an Bertolt Brechts »An die Nachgeborenen« an – und damit an ein bis heute zentrales und oft thematisiertes Stück politischer Lyrik deutscher Zunge überhaupt. In Aufbau, Sprachduktus und auch Motivwelt (man nehme etwa das Schuhwechseln als zentralen Vergleichsmaßstab) folgt er unverkennbar dem Brecht-Vorbild nach. Das Wichtigste aber ist: In beiden Gedichten wird das heimatliche Deutschland vermessen, die eigene Position im Land bestimmt. Und beide Male findet sich hier kein Anlass zum Jubeln, ist vielmehr eine gedrückte, düstere Stimmung vorherrschend.
Bei Brecht freilich fällt diese noch ungleich dramatischer und im Überlebenssinne existentieller aus. Dafür rechnet er mit einer deutlich verbesserten Zukunft, wohingegen Grüneberger auch für die kommende Zeit, die nächsten Generationen von einer grauen Verlorenheit des Menschen ausgeht – und damit von einem wahrscheinlich unveränderbaren Status quo.
Grüneberger nimmt also Brecht und begutachtet nach diesem Maßstab und mit diesen Mitteln seine Zeit, seine Gesellschaft, sein eigenes Sein. Brechts Gedicht entstand dabei in der Vorkriegszeit der Nazi-Herrschaft (genauer von 1934 bis 1938), Grüneberger fasste seine kritische Perspektive auf die DDR 1977 in Verse.
Nachlesen und -hören lässt sich das Brecht-Original etwa über Fritz Stavenhagens verdienstvolles Poesieportal Deutschelyrik.de: https://www.deutschelyrik.de/an-die-nachgeborenen.html
+ Zum Autor
Ralph Grüneberger wurde 1951 in Leipzig geboren, wo er auch heute noch lebt und schreibt. Nach einer Fräserlehre Studium am »Johannes R. Becher«-Literaturinstitut in Leipzig. Seit 1978 zahlreiche Veröffentlichungen: Liedtexte, Lyrik, Literaturkritik, Kinderbuch, Prosa und Publizistik. 2006 begründete er das »Poesiealbum neu«, dessen verantwortlicher Redakteur er bis 2021 blieb. Bis dahin war er auch 25 Jahre Vorsitzender der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik, die das »Poesiealbum neu« bis heute herausgibt und der er als Ehrenvorsitzender weiterhin angehört. Grüneberger ist zudem Mitglied des PEN.
Er hat etliche Stipendien erhalten (etwa die Aufenthaltsstipendien für Schreyhahn vom Land Niedersachsen 2006 und fürs ungarische Pécs von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen 2017) und wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. erhielt er 1986 den Debütpreis des Schriftstellerverbandes der DDR sowie 2006 den Menantes-Preis für erotische Dichtung. Veröffentlichungen in deutschsprachigen Anthologien und Zeitschriften (wie »Sinn und Form«, »Das Gedicht«, »Die Horen«, »Ort der Augen« und »Signum«) sowie in vergleichbaren Publikationen etwa in Frankreich, Mexiko, USA, Griechenland, Rumänien, Russland. Dazu auch internationale Lesereisen und Poesiefestivalteilnahmen.
Rund drei Dutzend Solo-Titel sind von Grüneberger bislang erschienen, zuletzt etwa die Romane »Herbstjahr« (2019) und »Lisa, siebzehn, alleinerzogen« (2022), der Erzählband »Leipziger Geschichten« (2020) und der Kulturführer »Lieblingsplätze Sachsen« (2022; alle Gmeiner). Die jüngsten Lyrikbände von ihm sind »Mit Mick Jagger in Plagwitz« (Leipzig-Gedichte, mit Zeichnungen von Heinz Müller, Edition Kunst & Dichtung 2015) und »Bienen über Brooklyn« (mit Holzstichen von Bettina Haller, Sonnenberg-Presse 2016).
www.RalphGrueneberger.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.