Das Vorbild für Gisbert Amms »Der Radwechsel« stellt selbstredend das gleich betitelte Gedicht von Bertolt Brecht dar. In jenem ist das lyrische Ich ein Fahrgast, der dem Chauffeur ungeduldig bei einem Radwechsel, der offenbar einer Panne wegen nötig geworden ist, zusieht – und das sich, am Straßenhang sitzend, fragt: Wieso eigentlich wartet es derart ungeduldig auf das Ende der Reiseunterbrechung? Denn, so gesteht es sich selbst und dem Leser ein, weder an seinem Start- noch an seinem Zielort will es sein.
Der metaphorische Gehalt dieser Szene ist dabei augenfällig, sie ist unschwer als Gleichnis zu erkennen. Es geht um eine wahrhaft zeitlose Menschheitsfrage, so einfach wie bildhaft und eindringlich gestellt. Zweifellos ist Brecht da ein absoutes Meisterwerk gelungen, und es erscheint überaus nachvollziehbar, dass dieses Poem bis heute zu den wohl meistgelesenen und -geschätzten Gedichten deutscher Zunge gehört.
Gisbert Amm übernimmt Tonfall, Aufbau, den prosaischen Ton, der mittels deutlichem Understatement zum Pathos der Grundsätzlichkeit führt (in ihm sowie in seinem Hang zum Gleichnis ist übrigens Brecht Jesus und Co. nicht ganz unähnlich), und er arbeitet auch mit gleichen technischen Mitteln (etwa dem Parallelismus, den er sogar noch steigert). Der entscheidende Unterschied – und mit ihm der komische Effekt – liegt in der Perspektive: Diesmal spricht zwar wieder ein Nichthandelnder, doch es ist nicht der Fahrgast, sondern ein Reifen; kein Mensch also, sondern ein Gebrauchsgegenstand – für den ja eine Unfähigkeit zur geistigen Reflexion sowie zur Kommunikation im Allgemeinen vorausgesetzt und der auch per se nicht mit Mitleid bedacht wird.
Gesteigert werden das Humoristische wie auch der hier zugleich vorhandene ernste philosophische Kern (Ausgeliefertheit des lyrischen Ichs, wie bei Brecht, nur noch intensiviert) durch das Wissen, dass ein weiteres überaus bekanntes und gerühmtes Prosa-Poem von Brecht – und mit ihm ein Brecht’sches Grundthema – hier assoziativ Einzug hält, nämlich »Fragen eines lesenden Arbeiters«. In jenem fragt Brecht etwa, ob Cäsar Gallien wirklich ganz alleine unterwarf – und nicht wenigstens einen Koch an seiner Seite hatte. Und er beklagt, dass die Namen der alten Könige bis heute überliefert sind, doch die der Arbeiter, die deren Städte, Wahrzeichen, Weltwunder errichteten, eben nicht.
Doch ausgerechnet jener Brecht, so die inhärente intertextuelle Kritik, die in Amms Nachbild steckt, beachtet den Fahrgast, den König der Radwechsel-Szene, der so prominent wie erhoben und nichthandelnd sie bestimmt, und vergisst darüber hinweg jenen, der die Last getragen hat, der unten ist, aufgeopfert wurde und nun weiterhin schlecht behandelt wird, um dessen Willen es nicht geht und nie gehen wird. Gisbert Amm zeigt, wie ungerecht das ist, indem er quasi als Brecht über Brecht richtet – mit viel Augenzwinkern und doch einem tieferen Sinn.