»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Hüttenberger
Weidenrehlein
Sah ein Wolf ein Rehlein steh’n,
Rehlein auf der Weide,
War so jung und war so schön
Appetitlich anzuseh’n.
Sah’s mit sehr viel Freude.
Rehlein, Rehlein, bist bald tot,
Rehlein auf der Weide.
Wolf sprach: »Reh, ich fresse dich,
Rehlein auf der Weiden.
Ich bin hungrig, du bist frisch!«
Sagt, ist das nicht fürchterlich?
Wie könnt’ man’s vermeiden?
Rehlein, Rehlein ist bald tot,
Rehlein auf der Weiden.
Kommt ein Jägersmann und sieht
Beide auf der Weiden.
Ahnt ihr schon, was jetzt geschieht?
Peng! Ein Schuss! – Der Wolf, er flieht
Fort von dieser Weiden.
Und das Rehlein? Es ist tot,
Musst’ zum Glück nicht leiden.
Die Moral von der Geschicht’
Vom Rehlein auf der Weide:
Traue Wolf und Jäger nicht!
Beide üben nicht Verzicht,
Töten wollen beide.
Beide wollten nur den Tod
Vom Rehlein auf der Weide.
© Michael Hüttenberger, Michelstadt im Odenwald
+ Das Original
Johann Wolfgang von Goethe
Heidenröslein
Sah ein Knab’ ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell es nah zu sehn,
Sah’s mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.
Knabe sprach: Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!
Röslein sprach: Ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich,
Und ich will’s nicht leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.
Und der wilde Knabe brach
’s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt’ es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.
+ Zum Autor
Michael Hüttenberger, 1955 in Offenbach geboren, Studium der Germanistik und Soziologie in Frankfurt am Main, dort auch Promotion, dann Lehrer, Schulleiter und Bildungskoordinator sowie -entwickler, entsprechend auch Autor zahlreicher Fachbeiträge zum Thema Bildung. Lebt heute als freier Autor in Michelstadt und Stedesdorf (Ostfriesland).
Seine Schaffensschwerpunkte sind hier: Lyrik und Kurzprosa sowie Kommentare und Glossen. Er gewann den Science-Slam Darmstadt 2007, den Stockstädter Literaturpreis 2012 und den Krimipreis Wardenburg 2013, er belegte den zweiten Platz beim Mannheimer Literaturpreis 2014 (Lyrik), und er wurde Finalist beim Menantes-Preis für erotische Dichtung 2016 sowie Merck-Stipendiat der Darmstädter Textwerkstatt 2019. 2022 gewann er den dritten Preis beim Odenwälder Krimiwettbewerb.
Er war Mitinitiator und einer der zentralen »Spieler« der Lyriker-Mannschaften, die unter Leitung von Jan-Eike Hornauer die Fußball-WM 2014 und die EM 2016 auf DAS GEDICHT blog in Versform kommentierten (siehe »Vom Leder gezogen 2014« und »Vom Leder gezogen 2016«). Sein bevorzugtes Mittel hier: das Sonett. Und gegenwärtig betreibt er gemeinsam mit Franca Franz die Text-Bild-Reihe »Auf ein Wort mit« auf Instagram, wobei er die Lyrikbeiträge kuratiert und sie die der bildenden Kunst.
Zuletzt von Hüttenberger, der im Printbereich neun Einzeltitel und drei Mitherausgaben vorweisen kann, erschienen sind: »Komm’ mit, sagte der Esel. 27 Grimm’sche Märchenverdichtungen« (Neuauflage, mit Illustrationen von Milena Breiter, Heinevetter 2021), »Der Bildungsstruwwelpeter. Lästige Geschichten und kritzelige Bilder über das deutsche Schulwesen« und »Auf den Busch geklopft. Verdichtete Anmerkungen zum deutschen Schulsystem« (beide: Heinevetter 2018).
www.MichaelHuettenberger.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.