»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Patricia Falkenburg
Lichter Morgen im Käfig.
Am hellen Frühlingsmorgen streift das Licht
Durch enge Stäbe Schatten auf sein Fell.
Malt Waldeshell und Blätterdunkel ihm,
Und Streifenmuster spiegeln in den Traum,
Der den entleerten Blick ins Dickicht weitet.
Ein Horchen, traumesdicht.
Ein Sprung im Traum.
Ein Schmerz.
Und Stille.
Stäbe zerteilen ihm die Welt selbst noch
Im Traum, und noch im Träumen ist
In lichten Streifen auf der Käfigwand
Gefangenschaft gewusst und ausgestellt.
So bricht das Licht,
Wie Hoffnung bricht.
Und hört im Herzen auf zu sein.
© Patricia Falkenburg, Pulheim
+ Das Original
Rainer Maria Rilke
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Anmerkung: »Der Panther« von Rilke ist mit klarem Abstand das am häufigsten genutzte Vorlagen-Gedicht dieser Reihe. Popularität und Angebot an vor allem inhaltlichen, jedoch auch formalen Anknüpfungspunkten sind hier zwei entscheidende Kriterien: Er gilt vielen meiner Dichterkollegen (sogar dann, wenn sie ihn einmal weniger zart weiterverarbeitet haben sollten!) wie auch mir als eines der besten deutschen Gedichte überhaupt; sie kennen ihn gut, tragen ihn im Geiste immer mit sich und beschäftigen sich gerne mit ihm. Und er lässt sich in vierlei Hinsicht uminterpretieren sowie thematisch (hinsichtlich unterschiedlichster Aspekte von Leben und Gesellschaft), auf die Zeit bezogen sowie auch formal und sprachlich wahlweise gut originalnah nutzen oder auch neu denken.
Aus der großen Präsenz des Rilke-Panthers in »Gedichte mit Tradition« ergab sich der Gedanke, die »Panther«–Nachfolgegedichte quasi als kleine Sammlung innerhalb der Reihe leicht zugänglich zu machen sowie auch den Panther noch weiter zu stärken. Entsprechend habe ich Autorinnen und Autoren dazu aufgerufen, weitere »Panther«–Lyrik zu verfassen. Patricia Falkenburg ist diesem Aufruf gefolgt und hat extra für die »Gedichte mit Tradition« ihr wahrhaft gelungenes oben wiedergegebenes »Panther«-Poem »Lichter Morgen im Käfig.« verfasst; und nicht nur sie hat sich durch diesen Aufruf inspiriert gefühlt und ihn als Anlass genommen, Neues zu schaffen (was mich besonders freut, da er so einen echten künstlerischen Effekt zeitigt!), es sind auch weitere neu geschriebene »Panther«-Gedichte bei mir eingegangen, so etwa von Jan Causa und Hans-Werner Kube, also zwei etablierten »Gedichte mit Tradition«-Autoren; sie werden dann in den kommenden beiden Folgen zu lesen sein. Weitere »Panther«-Poeme sind mir, von bereits in der Reihe vertretenen Dichterinnen und Dichtern ebenso wie von weiteren Autoren, natürlich nach wie vor sehr willkommen – und die richtig gelungenen von ihnen sollen dann auch weiterhin (gleich oder auch mit Abstand, denn diese Reihe kann ja nicht nur aus lauter Panthern bestehen) in den »Gedichten mit Tradition« veröffentlicht werden.
Damit alle bisherigen und künftigen »Panther«-Gedichte mit nur einem Klick übersichtlich zugänglich sind, wurden die entsprechenden Folgen mit dem Tag »Der Panther« versehen; entweder unten auf den Tag klicken oder hier auf den nachfolgenden Link, dann steht die ganze »Panther«-Familie versammelt da:
https://www.dasgedichtblog.de/tag/der-panther/
+ Zur Autorin
Patricia Falkenburg, geboren 1961 in Mannheim, wohnt seit 1999 mit ihrer Familie in Pulheim bei Köln. Promovierte Naturwissenschaftlerin (Molekularbiologin), Medical Writer, Lyrikerin. Seit 2015 Veröffentlichung von Gedichten in Deutsch und Englisch, mit und ohne Fotovisualisationen, und von Lyrik-Videos. Redakteurin bei »Lyrik in Köln«, Mitglied der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik, Leipzig, und des PEN Freundes- und Förderkreises. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien, z. B. in Periodika wie »Poesiealbum neu«, »Versnetze« und »Dichtungsring« sowie in Sammelbänden wie »FriedenLieben« (hg. v. Reinhard Rakow, Geest-Verlag 2017) und »Gefangensein. Drinnen und Draußen« (Gedichtband, hg. v. Gisela Weinhändler, muc Verlag 2018). Zur diesjährigen Buchmesse in Leipzig erschien Falkenburgs erster Einzeltitel: »Portugiesische Notizen« (mit Grafiken von Bettina Haller, Lyrikheft Nr. 24, Sonnenberg-Presse Chemnitz).
www.patricia-falkenburg.com
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.