»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Jan-Eike Hornauer
Blumengruß an Gottfried Benn
Eine kleine Aster wurde ans Ufer geschwemmt.
Dunkelhelllila lag sie da,
Unrat in sich drin verklemmt.
Ich nahm mir ein Messer,
sie zu sezieren,
ihr Verderben genau zu studieren,
da stürzte ein Bierfahrer herbei
und sich auf sie – er schlug hart auf.
Der Fluss durchspülte sein Hirn
und wusch das Blut aus seinem Schädel.
Die Aster glitt vorüber
an Gehirn, Brustkorb und Gestrüpp.
Trinke Dich satt im Brack,
ruhe sanft,
fremder Bierfahrer!
© Jan-Eike Hornauer, München
+ Zum Original
Das Vorbild ist hier Gottfried Benns »Kleine Aster«. Dieses spektakuläre Gedicht aus seinem berühmten und bis heute beeindruckenden »Morgue«-Zyklus vereint Brutalität mit Zartheit, spielt mit dem Grotesken, das es pointiert überhöht – und zeigt es doch auch als inhärenten Teil unser aller Lebenswelt. Meine Hommage »Blumengruß an Gottfried Benn« soll eben genannte Aspekte gleichfalls, freilich jedoch in etwas variierter Fassung zur Geltung bringen.
Doch nicht nur hier und in der Stimmungslage ist eine enge Nähe zum Original angestrebt. Es sind als (Quasi-) Protagonisten zu verzeichnen: ein Bierfahrer, eine kleine Aster, ein lyrisches Ich mit Seziergerät. Fokussiert Benn allerdings mehr auf die Aster, rücken meine Verse stärker den Bierfahrer in den Mittelpunkt. In beiden Fällen jedoch gilt: Der Bierfahrer ist am Ende tot. Und die Aster – ja, sie überlebt irgendwie, doch das offenkundig nur vorerst. Sie wird zwar dem sofortigen Tod entrissen, aber ein rasches Verderben wartet unabwendbar auf sie; und immer ist der Bierfahrer für diese »halbe Rettung«, wenn man so will, zentral.
Bei Benn wird die Aster in die Brusthöhle des Bierfahrerleichnams »eingepflanzt« « und eingenäht; dies ist eine Art heiliger und mitfühlender Akt, jedoch zweifelsohne keine irdische Rettung im eigentlichen Sinn. In meinem Nachbild errettet der Bierfahrer sie vor dem Seziertwerden durch das lyrische Ich; der Fluss, der sie fortspült, bringt sie jedoch zwar aus der unmittelbaren Gefahrenzone, da sie ja aber erstens ihrer Verwurzelung beraubt ist und zweitens den – mehr oder weniger wilden – Fluten anheimgegeben ist (in ihnen mag sie kurz zwischen Tod und Leben sein, doch es wird sie unweigerlich »auf die andere Seite« hinübertragen), ist ihr Ende offenkundig ebenso nah wie unabänderlich.
Ein Unterschied sei abschließend noch erwähnt: Der Moment des Zufalls spielt in meinen Versen eine bedeutende Rolle, und Handeln korrespondiert hier mit Bestrafung; das ist beides bei Benn nicht der Fall.
+ Zum Autor
Jan-Eike Hornauer, geboren 1979, lebt als freier Textzüchter (Autor, Herausgeber, Lektor und Texter) in München. In Lübeck auf die Welt geworfen, aufgewachsen in Hausen bei Aschaffenburg, Studium der Germanistik und Soziologie in Würzburg. Seine literarischen Schaffensschwerpunkte sind: Lyrik (u. a. komische Gedichte) und Kurzgeschichten unterschiedlichster Stimmungslage. Er ist zweiter Vorsitzender des Münchner Künstlervereins »Realtraum«. Zuletzt von ihm erschienen sind sein zweiter Solo-Lyrikband »Das Objekt ist beschädigt – zumeist komische Gedichte aus einer brüchigen Welt« (muc Verlag 2016) und »Wenn Liebe schwant«, eine Anthologie mit neuen komischen Liebesgedichten zeitgenössischer Poeten (muc Verlag 2017).
Hier auf »DAS GEDICHT blog« hat er mehrere Online-Anthologien verantwortet, zu denen er auch je eigene Beiträge beigesteuert hat (u. a. »Wenn Liebe schwant III« und »Vom Leder gezogen – zur EM 2016 in Frankreich« sind hier zu nennen). Zusammen mit Alex Dreppec und Fritz Deppert hat er zudem die Reihe »Lockdown-Lyrik« herausgegeben, in der zahlreiche Poetinnen und Poeten den Corona-Shutdown unmittelbar lyrisch begleitet und kommentiert haben. www.Textzuechterei.de/autor.html
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.