»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Augustin
Nänie im Bücherladen
Unter Lyrik stehn sie arg beengt
paar Bändchen nur, hineingezwängt:
drei Klassiker, und gleich daneben
zwei Preisgekrönte, die noch leben
Ach ja, sie stehen, stehen, stehen
doch diese blöden Leser gehen
auf ausgelatschten Bahnen
(es nützt nix, sie zu warnen)
schnurstracks zu den Romanen
© Michael Augustin, Bremen
+ Zum Original
Friedrich Schiller
Nänie
Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
+ Zum Autor
Michael Augustin, 1953 in Lübeck geboren, studierte in Kiel und Dublin irische Literatur und Volkskunde und lebt in Bremen. Er schreibt Gedichte, Minidramen und Kurzprosa sowie Lyrik für Kinder. Seine literarischen Arbeiten, Collagen und Zeichnungen erscheinen weltweit in Zeitschriften. Zuletzt erschienen bei S. Fischer sein Gedichtbilderbuch »Hier kommt der stärkste Mann der Welt« (illustriert von Sabine Kranz) und im irischen Verlag Redfoxpress ein Band mit Collagen: »Herring & Smelt« (beide 2021).
Für viele Jahre hat er bei Radio Bremen als Feature-Autor und Redakteur gearbeitet und sich dabei intensiv mit der Präsentation von Lyrik aus aller Welt befasst. Er war Direktor des Festivals »Poetry on the Road«, sowie Kurator der internationalen Literaturkarawane »What is Poetry?« in Indonesien, Südafrika und Simbabwe.
Augustins Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, und er war Gast auf Poesiefestivals in aller Welt. Ausgezeichnet wurde er mit dem Friedrich-Hebbel-Preis, dem Kurt-Magnus-Preis der ARD und Ende 2021 mit dem Premio Casa Bukowski Internacional de Poesía. Er ist Honorary Fellow der Universität Iowa und am Dickinson College in den USA und war Writer in Residence an der Universität Bath in England und im Heinrich-Böll-Cottage in Irland. Er ist Mitglied des PEN.
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.