»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Holger Paetz
Schlaflos
(faustisch)
Da seid ihr wieder, schwankende Gedanken.
Ihr könnt’s nicht dulden, was? Ich hab’s geahnt.
Dass euch Chef Morpheus weist in eure Schranken.
Ihr braucht mich wach, dann seid ihr militant.
Ihr kommt getrampelt, wenn ich wehrlos wanke
schon auf der Schwelle zu dem Ohnmachtsland.
Ihr packt mich fest, ihr lasst mich ungern fallen.
Ihr haltet mich mit euren spitzen Krallen.
Ihr bringt sie mit, die Bilder alter Zeiten.
Und jede Peinlichkeit habt ihr sofort parat.
Erinnert mich an längst vergang’ne Pleiten.
So vieles, was man gern verdrängelt hat.
Ihr könnt das gut. Ihr kommt von allen Seiten.
Ich liege rastlos da. Ihr macht mich platt.
Mein armes Hirn würd gern in Schlaf zerschmelzen.
Ihr wollt nur eins: dass ich mich stöhnend wälze.
Und sie, die Geilheit? Lässt sich nicht bezirzen.
Sie ist unpässlich, hält sich ganz bedeckt.
Die Qual eurer Visite abzukürzen,
das wäre es. Ich krieg sie nicht geweckt.
Ich würd mich gern in Phantasien stürzen,
doch jedes kleine Flämmchen stirbt verschreckt.
Ihr wisst Geschichten von Gelegenheiten
mit schönen Fraun, die ich mir ließ entgleiten.
Au Backe, und jetzt kommt sie, die Palette
von Zukunftsangst, von: schaffst du eh nicht mehr,
von: Geld langt nie, von: ach, wenn ich doch hätte.
Von all dem Angstgesumse, tonnenschwer.
Es schüttelt mich wie eine Marionette,
und wie an Fäden zuck ich hin und her.
Der Wecker rappelt bald, des Morpheus Widersacher.
Ich steh jetzt auf. Ich werde nicht mehr wacher.
© Holger Paetz, München
+ Das Original
Johann Wolfgang von Goethe
Zueignung, Faust 1
Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
Ihr drängt euch zu! nun gut, so mögt ihr walten,
Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt;
Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert
Vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.
Ihr bringt mit euch die Bilder froher Tage,
Und manche liebe Schatten steigen auf;
Gleich einer alten, halbverklungnen Sage
Kommt erste Lieb und Freundschaft mit herauf;
Der Schmerz wird neu, es wiederholt die Klage
Des Lebens labyrinthisch irren Lauf,
Und nennt die Guten, die, um schöne Stunden
Vom Glück getäuscht, vor mir hinweggeschwunden.
Sie hören nicht die folgenden Gesänge,
Die Seelen, denen ich die ersten sang;
Zerstoben ist das freundliche Gedränge,
Verklungen, ach! der erste Widerklang.
Mein Lied ertönt der unbekannten Menge,
Ihr Beifall selbst macht meinem Herzen bang,
Und was sich sonst an meinem Lied erfreuet,
Wenn es noch lebt, irrt in der Welt zerstreuet.
Und mich ergreift ein längst entwöhntes Sehnen
Nach jenem stillen, ernsten Geisterreich,
Es schwebet nun in unbestimmten Tönen
Mein lispelnd Lied, der Äolsharfe gleich,
Ein Schauer faßt mich, Träne folgt den Tränen,
Das strenge Herz, es fühlt sich mild und weich;
Was ich besitze, seh ich wie im Weiten,
Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.
+ Zum Autor
Holger Paetz, geboren 1952 in München, wo er heute auch lebt, ist Kabarettist, Song-Poet, Autor und Schauspieler. Aufgewachsen in Aschaffenburg, ging er zum Studium an der philosophischen Fakultät nach Würzburg, es erfolgte schließlich ein »Abbruch ohne Wehklagen von beiden Seiten«, wie Paetz es beschreibt. Paetz begann seine künstlerische Karriere, wurde 1976 mit dem Liedermacherpreis des Hessischen Rundfunks ausgezeichnet und zog 1977 nach München, wo er sich in der Kleinkunstszene etablierte und nebenher Friedhofsgärtner, Kellner und Archivar war.
Seine Solo-Programme führten ihn schließlich bis auf die großen Kabarettbühnen der Republik sowie in die bedeutenden Kabarettfernsehprogramme, etwa »Scheibenwischer«, »Mitternachtsspitzen« und »Ottis Schlachthof«. Von 1999 bis 2009 war Paetz Autor des Nockherberg-Singspiels, dort gab er zudem den FDP-Politiker Guido Westerwelle. Paetz wurde u. a. mit dem Salzburger Stier (Pate: Dieter Hildebrandt; 1996), dem Kabarettpreis der Landeshauptstadt München (1999) und dem Schwabinger Kunstpreis (2013) ausgezeichnet. Aktuelle Soloprogramme: »Liebes Klima, gute Besserung!« sowie »Fürchtet Euch!«, die alljährliche Buß- und Fastenpredigt als Pater Paetz.
In Buchform sind von ihm erschienen: die Gedichtbände »Männer im Lift« (2020), »Der Hausverlasser« (2017) und »Pure Lyricks« (2016; alle drei: Paetz Verlag).
www.holger-paetz.de und www.paetz-verlag.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.