»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Karsten Paul
Der Malocher in Bochum
Es war ein Malocher in Bochum
gar treu bis über das Grab.
Früh brachte der Krebs ihm die Frau um –
fast stieg er mit hinab.
Doch schenkte ihm noch im Sterben
einen Kaffeepott seine Frau,
mit Aufdruck – der fordert Leben:
Schnurr lange, mein Kater! Miau ;-)
Nun trinkt der Mann jeden Morgen
neue Kräfte aus dem Pott
und abends (gegen die Sorgen)
sein Bier. Das bringt ihm Spott.
Die Kneipenkumpel erklären,
der Pott, der schrecke ab:
»Wie sollen dich Frauen begehren?
Die sehn das und lachen sich schlapp!«
Er brummt was von Masse und Klasse.
»Mir reicht die meine schon aus!«
Er trinkt noch ’nen Korn aus der Tasse
und geht stets alleine nach Haus.
Im Fernsehen schaut er weiter,
was sie schon zu zweit gesehn,
und lächelt den Pott an, fast heiter,
wenn Filmmelodien verwehn …
Er geht mit dem Pott auch spazieren
und sammelt drin allerlei Kraut,
aus dem er dann, nach ihren
Rezepten, Heiltee braut.
Er ist durch den Pott nie alleine,
denn jeder Schluck schenkt ihm Sinn:
Sie bleibt für immer die Seine,
lebt weiter, tief in ihm drin.
© Karsten Paul, Linz und Nürnberg
+ Das Original
Johann Wolfgang von Goethe
Der König in Thule
Es war ein König in Thule
Gar treu bis an das Grab,
Dem sterbend seine Buhle
Einen goldnen Becher gab.
Es ging ihm nichts darüber,
Er leert’ ihn jeden Schmaus;
Die Augen gingen ihm über,
So oft er trank daraus.
Und als er kam zu sterben,
Zählt’ er seine Städt’ im Reich,
Gönnt’ alles seinem Erben,
Den Becher nicht zugleich.
Er saß beim Königsmahle,
Die Ritter um ihn her,
Auf hohem Vätersaale,
Dort auf dem Schloß am Meer.
Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensgluth
Und warf den heiligen Becher
Hinunter in die Fluth.
Er sah ihn stürzen, trinken
Und sinken tief ins Meer,
Die Augen thäten ihm sinken,
Trank nie einen Tropfen mehr.
+ Zum Autor
Karsten Ingmar Paul wurde 1970 in Kaufbeuren geboren und lebt heute in Linz und Nürnberg. Der als ordentlicher Professor an der Johannes-Kepler-Universität in Linz tätige Psychologe kann zahlreiche Fachpublikationen vorweisen, dazu sind etliche seiner Gedichte in Anthologien, u. a. in »Wenn Liebe schwant« (hg. v. Jan-Eike Hornauer, muc Verlag 2017), und Literaturzeitschriften veröffentlicht, u. a. in »Das Gedicht« und »Macondo«.
Er ist regelmäßiger Autor von »Gedichte mit Tradition – neue Blätter am Stammbaum der Poesie«. Mehrfach wurde Paul bei Lyrikwettbewerben ausgezeichnet, zuletzt beim Lyrikstier 2018 (Jurypreis), beim Preis für politische Lyrik 2017 (1. Platz), beim Hochstadter Stier 2014 (Publikumspreis 1. Platz) und beim Jokers Lyrik-Preis 2013 (TextArt-Sonderpreis).
Jüngst ist sein erster Lyrikband erschienen, inspiriert durch die Reihe »Gedichte mit Tradition« und eng verwoben mit ihr: »Semmel sei der Mensch, Bratwurst und Senf!« (Untertitel »Fortschreibungen, Parodien, Gegenreden usw. zu klassischen Gedichten von Martial über Goethe bis Gomringer – frisch aus den Niederungen des Jetzt«, herausgegeben und mit Einordnungstexten von Jan-Eike Hornauer, muc Verlag 2025).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.