»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Siegfried Völlger
streit am morgen
in der dämmerung unterwegs
menschen, ärger mit einer taube
und die friedhofsratte,
sie werden groß hier,
die dir begegnet,
machen endgültig deutlich,
auch ohne archaischen torso,
du möchtest dein leben ändern
© Siegfried Völlger, Augsburg
+ Das Original
Rainer Maria Rilke
Archaischer Torso Apollos
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.
+ Zum Autor
Siegfried Völlger, geboren 1955 im niederbayerischen Frohnreuth (Lkr. Freyung-Grafenau), lebt in Augsburg. Nach einer längeren Berufsfindungsphase (u. a. ist er Bau- und Fabrikarbeiter, Spüler, Krankenpfleger sowie Wirt) entdeckt er seine Passion fürs Buchhändlerdasein. Als Hugendubel-Mitarbeiter bestückte er denn auch den hauseigenen Blog mit, etwa durch eigene Musikrezensionen und das Kuratieren der dortigen »Gedicht des Tages«-Rubrik. Und selbst im Ruhestand kann Völlger vom Kulturvermitteln nicht lassen, veranstaltet etwa im Brechthaus Augsburg regelmäßig Lesungen.
Erste Veröffentlichungen als Lyriker hatte Völlger bereits in den 70ern, und zwar mit Mundartgedichten. Seitdem ist er zahlreich in Zeitschriften bzw. Periodika (etwa in Das Gedicht, Versnetze, Bayerns Bestes) und Anthologien (u. a. »Fährten des Grauens – deutschsprachige Grusel- und Horrorgedichte«, hg. v. Axel Kutsch, Verlag Ralf Liebe 2021, und »Gedichte für alle Liebeslagen«, hg. v. Anton G. Leitner, Reclam 2021) mit seinen Versen vertreten.
Als Herausgeber hat er sich vor allem mit Anthologien für Sanssouci bei Hanser einen Namen gemacht (u. a. »Überlass es der Zeit – Gedichte für Trauernde, Worte zum Trost«, Sanssouci 2008). Zudem hat der Autor, der beinah ganz auf die Lyrik fokussiert ist, bislang drei Solotitel veröffentlicht: »Gespräch mit dem Wal und Freunden«, »Pilzfreund Bielers Posaune« (beide Edition Offenes Feld, 2023 bzw. 2021) und »(so viel zeit hat niemand)« (Lyrikedition 2000, 2018).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.