»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Julia Bachhuber
Einsame Weihnachten
Ich wollte nicht, doch musst’ ihn retten
Und klaute einen Weihnachtsbaum
Und all die Aldi-Lichterketten
Aus unsrem Mitarbeiter-Raum.
Dann ging ich heim. Da steht er krumm,
Beginnt die Wohnung zu besudeln.
Aus glitzernd’ Aluminium
Knüll’ ich seine Weihnachtskugeln,
dann entknot’ ich Lichterkabel,
Verschütte Mehl in frommer Andacht,
Verteil’ es stolz mit meiner Gabel.
Ach wie schön! Welch weiße Weihnacht!
Meine Winterlandschaft! Hier
Betrink’ ich mich und meinen Wein.
Brost! Salut! Wer weint mit mir,
Genießt in aller Dankbarkeit
Das selige Alleine-Sein
Gemeinschaftlicher Einsamkeit?
Selbst die Weihnachtsente floh,
Entrann dem Weihnachtsbratentod.
Da watschelt sie, sie schnattert froh,
und ich ess’ Bratensoß’ mit Brot.
Aus der Küche schallen Lieder
In die stumme Nacht hinaus.
Der Wein und ich, wir trinken wieder,
Lallen Stille Nacht durchs Haus.
Die Mikrowelle summt andächtig,
Mein Wasserkocher pfeift im Chor,
Und alle musizieren kräftig
Sinnlich in des Christkinds Ohr.
Als später läuten Kirchenglocken,
Häng’ ich, nach Sitte andrer Länder,
den Weihnachtsstrumpf (zu alten Socken,
klar, an meinen Wäscheständer).
Und lass’ mich in mein Bettchen fallen.
Mir ist, als wenn die Engel lachten!
Dann wünsch’ ich mir, dem Wein und allen
Gar einsam frohe Weihnachten!
© Julia Bachhuber, Freiburg
+ Das Original
Joachim Ringelnatz
Einsiedlers Heiliger Abend
Ich hab’ in den Weihnachtstagen –
Ich weiß auch, warum –
Mir selbst einen Christbaum geschlagen,
Der ist ganz verkrüppelt und krumm.
Ich bohrte ein Loch in die Diele
Und steckte ihn da hinein
Und stellte rings um ihn viele
Flaschen Burgunderwein.
Und zierte, um Baumschmuck und Lichter
Zu sparen, ihn abend noch spät
Mit Löffeln, Gabeln und Trichter
Und anderem blanken Gerät.
Ich kochte zur heiligen Stunde
Mir Erbsenuppe mit Speck
Und gab meinem fröhlichen Hunde
Gulasch und litt seinen Dreck.
Und sang aus burgundernder Kehle
Das Pfannenflickerlied.
Und pries mit bewundernder Seele
Alles das, was ich mied.
Es glimmte petroleumbetrunken
Später der Lampendocht.
Ich saß in Gedanken versunken.
Da hat’s an die Türe gepocht,
Und pochte wieder und wieder.
Es konnte das Christkind sein.
Und klang’s nicht wie Weihnachtslieder?
Ich aber rief nicht: »Herein!«
Ich zog mich aus und ging leise
Zu Bett, ohne Angst, ohne Spott,
Und dankte auf krumme Weise
Lallend dem lieben Gott.
+ Zur Autorin
Julia Bachhuber, geboren 2004 in München, machte vergangenes Jahr ihr Abitur in der bayerischen Landeshauptstadt. Während ihrer Schulzeit war sie Redakteurin der Schülerzeitung und verfasste zudem regelmäßig Artikel für den Jahresbericht sowie die Schulhomepage des Theresia-Gerhardinger-Gymnasiums. Ab Sommer 2023 absolviert sie einen einjährigen Freiwilligendienst in Costa Rica, und nach ihrer Rückkehr hat sie das Studium der Liberal Arts and Sciences an der Universität Freiburg aufgenommen.
Im Belletristischen schreibt Bachhuber vor allem Lyrik und kurze Prosa. Ihren ersten literarischen Erfolg hatte sie 2022 mit dem Lina-Lit-Preis, der ihr im Rahmen eines Schülerwettbewerbs ihres Gymnasiums verliehen wurde. Zwei Jahre später nun gibt’s bereits ihre ersten literarischen Veröffentlichungen außerhalb des Schulkontextes. Neben dem hier vorliegenden »Einsame Weihnachten« sind 2024 erschienen: das ebenfalls in den »Gedichten mit Tradition« publizierte Poem »Die Männer von der Teufelsinsel« sowie das Gedicht »Einsam nächtliche Bekanntschaft« in der »Von Sinnen«-Ausgabe des »Poesiealbum neu« (hg. v. Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.