»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Thomas Glatz
Ungefunden
Ich ging zum Walde
So für mich hin,
Waldzubaden,
Das war mein Sinn.
Da sah ich den alten Waldbademeister steh’n,
Braungebrannt, Sixpack,
Schön anzuseh’n.
Ich hob an, ihn zu fragen, ob es erlaubt,
Hier Waldzubaden,
Da hat er geschnaubt:
Lieber Waldbesucher,
Sie wären gerne hier gelaufen?
Wir hätten es Ihnen gerne ermöglicht.
Leider hat uns die Untere Naturschutzbehörde
Die den Pflichten nach nötigen Verkehrssicherungen untersagt.
Daher gilt ein striktes Begehungsverbot,
Insbesondere wegen Astabbruchgefahr
Gem. Paragraph 38, Absatz 1
Landeswaldgesetz.
Ich ging vom Walde
So für mich weg,
Waldzubaden
War leider nicht drin.
© Thomas Glatz, München
+ Das Original
Johann Wolfgang von Goethe
Gefunden
Ich ging im Walde
So vor mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich
Ein Blümlein stehn,
Wie Sterne blinkend,
Wie Äuglein schön.
Ich wollt es brechen,
Da sagt’ es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?
Mit allen Wurzeln
Hob ich es aus,
Und trugs zum Garten
Am hübschen Haus.
Ich pflanzt es wieder
Am kühlen Ort;
Nun zweigt und blüht es
Mir immer fort.
+ Zum Autor
Thomas Glatz, 1970 in Landsberg geboren, lebt als Künstler, Schriftsteller und Sozialpädagoge in München. Er studierte Sozialarbeit in Landshut und Bamberg sowie Bildende Kunst an den Kunstakademien in München und Helsinki. Als Autor verfasst er vor allem kürzere Prosa, Hörspiele, zuweilen Gedichte.
Seit 2000 leitet er das »Archiv für Gebrauchs- und Benutztexte«. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. erhielt er 2007 das Heinrich-Gartentor-Stipendium des ersten und unabhängigen Schweizer Kulturministers, 2010/11 das Literaturstipendium des Freistaats Bayern, 2012 den Leipziger Hörspielpreis (zusammen mit Colin Djukic, Gerhard Lassen und Florian Schenkel), 2015 den Leserpreis der Gesellschaft der Lyrikfreunde.
Zuletzt von Thomas Glatz erschienen sind: »Ubbelohde« (Roman, XS Verlag 2022) sowie »Nuddernheim« und »Die übrige Zeit bis zum Bestimmungsort« (Miniromane, Black Ink, 2016 bzw. 2017).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.