»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Lutz Rathenow
Der wirkliche Dichter
Schreibt nicht.
Nein, er schreibt nicht.
Er fühlt ein Bild
Und weint vor Glück.
Er würde vertreiben sein Gedicht,
wenn er mit dem Text begänne.
© Lutz Rathenow, Berlin
+ Das Original
Theodor Fontane
Der echte Dichter
(Wie man sich früher ihn dachte)
Ein Dichter, ein echter, der Lyrik betreibt,
Mit einer Köchin ist er beweibt,
Seine Kinder sind schmuddlig und unerzogen,
Kommt der Mietszettelmann, so wird tüchtig gelogen,
Gelogen, gemogelt wird überhaupt viel,
»Fabulieren« ist ja Zweck und Ziel.
Und ist er gekämmt und gewaschen zuzeiten,
So schafft das nur Verlegenheiten,
Und ist er gar ohne Wechsel und Schulden
Und empfängt er pro Zeile ’nen halben Gulden
Oder pendeln ihm Orden am Frack hin und her,
So ist er gar kein Dichter mehr,
Eines echten Dichters eigenste Welt
Ist der Himmel und – ein Zigeunerzelt.
+ Zum Autor
Lutz Rathenow, geboren 1952 in Jena, lebt als Dichter, Prosaautor, Journalist und Schreibdozent in Berlin. Von 2011 bis 2021 war er sächsischer Landesbeauftragter für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. In der DDR erst Wehrdienst in der Grenztruppe, dann Lehramtsstudium in seiner Heimatstadt in Deutsch und Geschichte, währenddessen auch Gründung und Leitung des oppositionellen Arbeitskreises Literatur und Lyrik, der allerdings 1975 verboten wurde. 1976 wurde Rathenow zudem verhaftet sowie 1977, kurz vor Studienabschluss, exmatrikuliert. Kurz Jobbertätigkeit beim VEB Carl Zeiss Jena, dann Umzug durch seine Frau nach Ost-Berlin. Hier war Rathenow dann beim Theater beschäftigt und als freier Schriftsteller tätig.
1980 erschein sein Debüt »Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet«, Hausdurchsuchung und Verhaftung folgten auf die Veröffentlichung dieses Proabandes im westlichen Ullstein-Verlag. Nach zehn Tagen wurde er, auch durch Intervention von Günter Grass und Christa Wolf, allerdings bereits wieder entlassen. Ausreiseangebote des Staates lehnte er ab, dafür engagierte er sich in der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung.
Rathenows schriftstellerisches Werk umfasst v. a. Lyrik, Kurzgeschichten (u. a. der Science Fiction), Kinderbücher, Essays und journalistische Arbeiten, v. a. für den Rheinischen Merkur. Zuletzt von ihm erschienen sind: »Früher ist morgen. Einhundertelf Gedichte von Lutz Rathenow« (Ralf Liebe 2025) und »Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten« (Kanon 2022).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.