Gedichte für Kinder – Folge 84: Sechs unveröffentlichte Gedichte von Lutz Rathenow

Uwe-Michael Gutzschhahn präsentiert jeweils am 10. eines Monats auf DAS GEDICHT blog faszinierende Kindergedicht-Autoren mit ihren vielfältigen Spielarten der Kinderpoesie. Denn das Kindergedicht soll lebendig bleiben – damit aus jungen Gedichtlesern neugierige Erwachsene werden, die sich an die Klänge und Bilder der Poesie erinnern, statt an die Last der didaktischen Lyrikinterpretation.

 

Erstaunlich

Die Post kommt mit der Post.
Die Wurst kommt auf den Rost.
Das Gähnen? Aus dem Mund.
Woher kommt, dass ich dich mag?
Da weiß ich einfach keinen Grund.

 

Was ich mag

Fluchen und Kuchen,
trampeln und hampeln,
das „O“ im „Iwo“ und in „Klo“.
Ich liebe meinen Hund,
der ist mehr braun als bunt.
Ich liebe Farbengewimmel
und Schlagzeuggebimmel.
Sätze wie „Gibt es nicht!“
liebe ich nicht.

 

Divers

Bin ich ein Rind
Bin ich ein Kind
Bin ich der Wind
Ich ändere mich
gerne geschwind.
Als BIN kann ich überall hin.

 

Überraschungen

Dieser Mann will in kein Gedicht.
Denn ein Gedicht, das mag er nicht.
Er will nur eins: nach Haus.
Geht los, rutscht kräftig aus.
Er fällt in ein Loch, auf einen Schatz.
Jemand vergrub hastig, vergaß den Platz.
Vergaß den Platz und auch das Gold,
vergaß sein Räuberdasein, ungewollt.
Vergaß fast alles, auch sein Vergessen.
Nur sein Appetit erinnert sich ans Essen.
Der Mann will nie Räuber gewesen sein,
er mag keine Schätze, lädt Leute ein:
zum Essen, Trinken, Feiern und mehr –
im Haus seine Gäste, die freuen sich sehr.

 

Wachsen

Die Blumen wachsen in der Vase.
Ein Tropfen wächst in meiner Nase.
Der Sonnenstrahl am Himmel wächst,
beim Essen auf dem Hemd – der Klecks.
Dann zwei, drei und noch viele mehr:
ein Muster ist das bald und gefällt
allen, na ja, fast allen wirklich sehr.

 

Warum wird ein Mann ein Weihnachtsmann

Wegen dem Bart? Dem Mantel? Der Mütze? Den Stiefeln?
Weil er Treppen steigt und Säcke schleppt?
(Jeder Schritt hält weihnachtsfit …)
Nein, er will Weihnachtsmann sein, weil er dann
alle Bücher zum Verschenken vorher noch lesen kann.

 

© Lutz Rathenow

 

 

Lutz Rathenow wurde 1952 in Jena geboren, seit 1977 lebt er in Ost-Berlin. Schon 1973 in dem von ihm gegründeten Arbeitskreis Literatur und Lyrik spielten Texte von Franz Fühmann, Sarah Kirsch oder Peter Hacks für Kinder eine wichtige Rolle – so konnte der Student, Transportarbeiter, Beifahrer, Theatermitarbeiter und freie Autor Rathenow mit Sprache und Realität gleichzeitig spielen. „Floh Dickbauch“ war 1988 das erste Kinderbuch. „Der Elefant auf dem Trampolin. Gedichte zum Größerwerden“ 2017 der vorerst letzte Band für Kinder. 2021 erschien „Maskierungszärtlichkeit. Dresdner Gedichte“. Zum 70. Geburtstag im Herbst 2022 ist ein ungewöhnliches biografisches Prosa-Projekt („Trotzig lächeln und das Weltall streicheln“, hrsg. von Marko Martin) aus neuen und alten Texten geplant. Kurze Prosa für Kinder jeglichen Alters wird sich als einer der Inspirationsfäden durch das Buch ziehen. „Gedichte sind Versuche, mittels Sprache zu fliegen. Um die Realität besser erkennen zu können oder sich von ihr einmal zu erholen: in einer eigenen Wort-Welt. Und ein klein wenig verändert in die Welt-Welt zurückzukehren. Kindergedichte? Der naive Kern des Schreibens, Neugier pur – jedes Gedicht ist der Versuch einer Antwort auf die Frage: Wieviel Kind steckt noch in mir Mensch?“

 

Uwe-Michael Gutzschhahn

 

Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath
Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath

Uwe-Michael Gutzschhahn, Jg. 1952, lebt in München und hat an der Universität Bochum über den Lyriker Christoph Meckel promoviert. Seit 1978 hat er zahlreiche eigene Gedichtbände veröffentlicht, u. a. »Fahrradklingel« (1979), »Das Leichtsein verlieren« (1982), »Der Alltag des Fortschritts« (1996) und »Die Muße der Mäuse« (2018). Zwischen 1988 und 1991 gab er die 12-bändige Kinder-Taschenbuchreihe »RTB Gedichte« mit Texten u. a. von Ernst Jandl, Oskar Pastior, Friederike Mayröcker und Sarah Kirsch heraus. 2003 folgte die Anthologie »Ich liebe dich wie Apfelmus«, die er mit Amelie Fried zusammenstellte und die gerade in einer Neuausgabe wiederaufgelegt wurde. Sein erster eigener Kindergedichtband folgte 2012 unter dem Titel »Unsinn lässt grüßen«. Und im Herbst 2015 erschien seine große Nonsenslyrik-Anthologie »Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her«, im Frühjahr 2018 die Anthologie »Sieben Ziegen fliegen durch die Nacht« bei dtv Junior, die aus der Reihe »Gedichte für Kinder« hervorgegangen ist.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Gedichte für Kinder« finden Sie hier.

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