Gedichte für Kinder – Folge 102: »Vom Träumen, Staunen und Fragen« – Neun unveröffentlichte Gedichte von sechs Dichterinnen und Dichtern

Uwe-Michael Gutzschhahn präsentiert jeweils am 10. eines Monats auf DAS GEDICHT blog faszinierende Kindergedicht-Autoren mit ihren vielfältigen Spielarten der Kinderpoesie. Denn das Kindergedicht soll lebendig bleiben – damit aus jungen Gedichtlesern neugierige Erwachsene werden, die sich an die Klänge und Bilder der Poesie erinnern, statt an die Last der didaktischen Lyrikinterpretation.

 

»Vom Träumen, Staunen und Fragen«

 

Elisabeth Steinkellner

Wind

He, du, Wind!
Kannst du mir sagen: Woraus spinnt
die Spinne ihr Netz? Und wer bringt ihr das bei?
Wer hat beschlossen, dass zwei
zusammen ein Paar ergeben?
Und dass man alles messen kann, in Metern den Weg
——————————————–und in Jahren das Leben?

Und sag, Wind,
bist du wirklich des Himmels Kind?
Wann war der Tag deiner Geburt,
wer hat dich „Wind“ genannt, statt „Ruth“ oder „Kurt“?
Und bist du nicht längst ein alter Mann?
Aber so schnell und beweglich, wie unter Menschen
——————————————–nur ein Junger sein kann.

Manchmal frag ich mich, wieso
bin ich, wie ich bin, und nicht anders? „Nur so!“,
könntest du sagen. „Ohne Grund!
Wasser ist nass und die Erde ist rund,
alles ist so, wie es nun einmal ist.“
Kennst du das Gefühl, wenn man jemanden
——————————————–wie verrückt vermisst,

so sehr, dass es richtig weh tut?
Und wie ist das jetzt eigentlich mit dem Mut:
Ist der angeboren oder erlernt?
Wie weit ist Nichts von Allem entfernt?
Was ist das Wichtigste in unserem Leben?
Legt das wer fest oder kann man sich darauf nur
——————————————–selbst eine Antwort geben?

Wieso gibt es Frühaufsteher
genauso wie Spät-zu-Bett-Geher
und auch Geher*innen?
Und nochmal zu den Spinnen:
Warum sollte ich die denn zerdrücken
hässlich und eklig finden, wenn sie mich doch
——————————————–in Wahrheit entzücken?

Wieso lieben die einen
die Berge mit Felsen und Steinen
und andere brauchen das Meer
so sehr?
He, Wind, wie wär’s: Ich sing dir was vor,
und dafür flüsterst du mir die Antworten
auf alle Fragen einfach ins Ohr.

Ssssssschschschschschschsssssschschsch
——————————————–sssssssschschschschsssss …
Schschschssssschschschschssschschssssssch
——————————————–sssschsssssschssschss …

Ach, jetzt könnte ich klarer sehen!
Würde ich bloß deine Sprache verstehen.

 

 

Heinz Janisch

Heute hab ich viel zu tragen

Heute hab ich viel zu tragen.
Das Gewicht von 13 Schneeflocken in meinen Haaren.
Das Gewicht von 63 gelebten Jahren.
Das Gewicht von 333 wichtigen Fragen.

Heute hab ich viel zu tragen.
Das Gewicht von 7 seltsamen Wörtern im Kopf.
Das Gewicht von 13 Zwirnsfäden an meinem Knopf.
Das Gewicht von 999 Märchen und Sagen.

Heute hab ich viel zu tragen.
Das Gewicht von 2 weißen Federn auf meiner Hand.
Das Gewicht von 5 Staubkörnern aus dem Feenland.
Das Gewicht von 9 gesungenen Lobliedern und Klagen.

Heute hab ich viel zu tragen.
Das Gewicht von 4 Baumschatten, die mir Kühle schenken.
Das Gewicht von 8 Gedanken, die meine Füße lenken.
Das Gewicht von 3-mal leise „Ich mag Dich“ Sagen.

 

 

Heinz Janisch

Still

Manchmal
kann man wunderbar still sein
mitten
im größten Lärm
Man bleibt einfach
still
und denkt sich seinen Teil
Diesen Teil
kann man auch lautlos
summen
oder
singen
oder
zwitschern
Zwitschern
ist das Schönste

 

 

Andrea Karimé

honigkuchenfisch

ich atme himmel
in meinem kopf schwebt ein
kokoswolkenboot

ich atme wiese
und nudelblumenregen
in meine hände

einen see atme ich
in meinem bauch wohnt
ein honigkuchenfisch

 

 

Michael Hammerschmid

das will ich dann sein

gibt es einen beruf mit
kuscheltier? oder mit
tier einfach so? gibt es
einen bei pflanzen?
im wald und mit sehr
viel moos (am besten)
und auch mit heu in das
man hüpfen kann tief
hinein!? gibt es einen
beruf mit viel warmem
wasser klar sprudelnd
bläschenfein? und mit
liegestuhl zum müde-
sein? und gibt es einen
beruf mit hörspiele hören
die einfach nur klingen
und wo man singt wann
man will ohne zugehört
worden zu sein? gibt es
gibt es einen beruf mit
blumen und morgenluft
ohne dass man früh auf-
stehen muss? und einen
wo man nicht schlafen-
gehen muss? gibt es
einen beruf als familie?
ja was gibt es für einen
beruf den man endlich
erfinden muss. das will
ich dann sein.

 

 

Nils Mohl

philosophie am wäschekorb

wohin
verschwinden fehlende socken?
von wem
lassen sie sich dorthin locken?

vielleicht
gibt es ja ein sockenparadies?
vielleicht
ein fußkleidungshöllenverlies?

ich sehe
eindeutige parallelen
zur frage
nach dem zufluchtsort der seelen

ob sich socken
und seelen einfach in luft auflösen?
wir betreten
hier die welt des wirklich mysteriösen

ja
manchmal
sind wir menschen
kaum schlauer als strauchtomaten

nein
wirklich
unser leben
ist und bleibt ein rätselraten

 

 

Nils Mohl

jag der angst angst ein

lock sie mit flackerkerze
in einen dunklen keller
steck sie in ein flugzeug
mit kaputtem propeller

schick ihr ein monster vorbei
das sie nachts heimlich anstarrt
sorg für einen stromausfall
während einer fahrstuhlfahrt

zeig ihr eine geisterstadt
und leergefegte plätze
ersetz alle gardinen
im haus durch spinnennetze

einfach alles ist erlaubt
die methode
darfst und kannst du
völlig frei wählen

aber besonders viel angst
bekommt die angst
wenn menschen sich
von ihr erzählen

 

 

Uwe-Michael Gutzschhahn

Fünf Buchstaben (oder sechs)

Krieg geht gar nicht.
Lass uns das Wort aus dem Fenster schmeißen.
Dann liegen nur noch fünf Buchstaben auf dem Asphalt.
Der Regen spült alles ab,
den Ruß und das Blut,
und die Buchstaben fließen zurück ins Alphabet,
weit auseinandergerückt,
weil sie zu fünft immer nur streiten.
Lass uns ein neues Wort überlegen.
Sechs Buchstaben bilden zum Beispiel Lachen.
Und das e, das auch im Krieg schon dabei war,
kann gerne mitmachen.

 

 

Uwe-Michael Gutzschhahn

Vom Wispern im Baum

Wenn du ganz leise bist,
kannst du die Blätter wispern hören im Baum.

Was erzählen sie sich?
Windgeheimnisse?
Einen Spinnwebentraum?

Vielleicht schauen sie in den Himmel,
betrachten die Vögel
und erinnern sich an den Bauchfederflaum.

Was flüstern sie?
Taumelnde Tropfenrätsel,
die herunterrannen an ihrem Saum?

Horch auf das Wispern der Blätter,
das voller Fragen ist
da oben im schaukelnden Baum.

 

© bei den Autorinnen und Autoren

 

Dies ist die vorerst letzte Ausgabe meiner Kindergedichtreihe im Blog der Zeitschrift DAS GEDICHT. Im März 2015 habe ich die erste Folge hier einstellen dürfen und den leider viel zu früh verstorbenen Dichter Peter Maiwald mit einigen Versen aus seinem Nachlass vorgestellt. Seither sind in fast neun Jahren 102 Beiträge erschienen und ich konnte 95 Dichterinnen und Dichter mit ihren poetischen Texten für junge Lesende vorstellen, weitere sieben Beiträge waren Themen gewidmet (Fußball, Weihnachten, Winter und zweimal Gedichte von Kindern). Viele Schulbuchverlage haben aus der so entstandenen größten Anthologie mit ihren mehr als 650 Kindergedichten geschöpft und Texte in ihre Lesebücher übernommen.
Den Abschluss bildet ein Beitrag, der in verschiedenen Varianten und Schattierungen Fragen stellt oder auslöst, die zum Nachdenken, Träumen und Staunen anregen sollen. Dazu habe ich die Dichter und Dichterinnen Michael Hammerschmid, Heinz Janisch, Andrea Karimé, Nils Mohl und Elisabeth Steinkellner eingeladen, mit mir Anlässe zu kindlichen Fragen zu finden und zu zeigen, wie die kleinen Alltagsfragen staunen machen und die Welt ganz neu sehen lassen können. Genau das wollen Gedichte: mithilfe von bildstarker Sprache Auslöser sein, das Leben neu, anders und vor allem mit eigenen Augen zu betrachten.
Das wollten alle 102 Beiträge der Blog-Reihe und so soll es auch in dieser letzten Textsammlung im Dezember 2023 sein. Wann es mit neuem Konzept im Blog weitergehen wird, steht noch nicht fest, aber dass es weitergehen wird, dessen sind DAS GEDICHT-Herausgeber Anton G. Leitner und ich uns sicher.

Uwe-Michael Gutzschhahn

 

Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath
Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath

Uwe-Michael Gutzschhahn, Jg. 1952, lebt in München und hat an der Universität Bochum über den Lyriker Christoph Meckel promoviert. Seit 1978 hat er zahlreiche eigene Gedichtbände veröffentlicht, u. a. »Fahrradklingel« (1979), »Das Leichtsein verlieren« (1982), »Der Alltag des Fortschritts« (1996) und »Die Muße der Mäuse« (2018). Zwischen 1988 und 1991 gab er die 12-bändige Kinder-Taschenbuchreihe »RTB Gedichte« mit Texten u. a. von Ernst Jandl, Oskar Pastior, Friederike Mayröcker und Sarah Kirsch heraus. 2003 folgte die Anthologie »Ich liebe dich wie Apfelmus«, die er mit Amelie Fried zusammenstellte und die gerade in einer Neuausgabe wiederaufgelegt wurde. Sein erster eigener Kindergedichtband folgte 2012 unter dem Titel »Unsinn lässt grüßen«. Und im Herbst 2015 erschien seine große Nonsenslyrik-Anthologie »Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her«, im Frühjahr 2018 die Anthologie »Sieben Ziegen fliegen durch die Nacht« bei dtv Junior, die aus der Reihe »Gedichte für Kinder« hervorgegangen ist.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Gedichte für Kinder« finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert