»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Hüttenberger
Kleiner Jesus
Ein besoffener Schafhirt hatte sich an die Stalltür
gestemmt.
Irgendwie hat er sich dabei seine blaulila
gefrorenen Finger eingeklemmt.
Schrie seinen Frust raus,
viel zu laut.
Wie ich mit meinem Messer
blitzschnell auf ihn zuschritt,
muss ich ihn tief getroffen haben, denn er glitt
auf das nebenliegende Getier.
Ich packte ihn in Brusthöhe,
schob ihn hinter einen Holzstapel.
Als Maria mir zunickt,
singe ich: Schlaf in deiner Krippe!
Ruhe sanft,
kleiner Jesus!
© Michael Hüttenberger, Michelstadt im Odenwald
+ Zu Original und Hintergrund
Der ersoffene Bierfahrer, in dessen Brusthöhle sich eine kleine Aster eingenistet hat, was wiederum das lyrische Ich bei einer Obduktion bemerkt, ist hier das Vorbild – und damit das wohl berühmteste Gedicht von Gottfried Benn, . Michael Hüttenberger hat etliche Motive und Worte dieses morbid-romantischen Bildes übernommen sowie auch das markante Textbild, also den sich durch die Strophenzahl und -längen etc. ergebenden visuellen Ersteindruck beim Blick aufs Gedicht nachgeahmt.
Auch gelingt es dem Michelstädter Dichter, die Stimmungslage ähnlich grotesk auszugestalten, wie es im Original der Fall ist. Erlebenswelt und assoziatives Umfeld freilich sind ganz verschoben, nämlich vom Alltäglichen ins Sakrale und vom Freien ins (vermeintlich) geschützte. Zudem erlebt hier nun der Leser, die Leserin den Unfall oder Totschlag oder Mord quasi mit, wenn auch retrospektiv und aus Tätersicht, wohingegen im Original alles mit der, schon lange vorhandenen, Leiche beginnt und das lyrische Ich keinem Tatverdacht unterliegt, sondern lediglich ein Mediziner mit poetischem Blick ist (ganz wie der Autor, wie Benn selbst).
Wer den toten Bierfahrer mit der dunkelhelllila Aster im Brustkorb einmal besichtigen, wer diese Verse von Benn einmal lesen möchte und vielleicht weitere Vergleiche anstellen, der kann sich zum Beispiel einmal hier auf planetlyrik.de klicken (und neben dem Gedicht auch einordnende Worte von Klaus Schuhmann sich zu Gemüte führen): https://www.planetlyrik.de/klaus-schuhmann-gottfried-benns-gedicht-kleine-aster/2013/04/
+ Zum Autor
Michael Hüttenberger, 1955 in Offenbach geboren, Studium der Germanistik und Soziologie in Frankfurt am Main, dort auch Promotion, dann Lehrer, Schulleiter und Bildungskoordinator sowie -entwickler, entsprechend auch Autor zahlreicher Fachbeiträge zum Thema Bildung. Lebt heute als freier Autor in Michelstadt und ist Mitglied im PEN-Deutschland.
Seine Schaffensschwerpunkte sind hier: Lyrik und Kurzprosa sowie Kommentare und Glossen. Er gewann den Science-Slam Darmstadt 2007, den Stockstädter Literaturpreis 2012 und den Krimipreis Wardenburg 2013, er belegte den zweiten Platz beim Mannheimer Literaturpreis 2014 (Lyrik), und er wurde Finalist beim Menantes-Preis für erotische Dichtung 2016 sowie Merck-Stipendiat der Darmstädter Textwerkstatt 2019. 2022 gewann er den dritten Preis beim Odenwälder Krimiwettbewerb.
Er war Mitinitiator und einer der zentralen »Spieler« der Lyriker-Mannschaften, die unter Leitung von Jan-Eike Hornauer die Fußball-WM 2014 und die EM 2016 auf DAS GEDICHT blog in Versform kommentierten (siehe »Vom Leder gezogen 2014« und »Vom Leder gezogen 2016«). Sein bevorzugtes Mittel hier: das Sonett. Und gegenwärtig betreibt er gemeinsam mit Franca Franz die Text-Bild-Reihe »Auf ein Wort mit« auf Instagram, wobei er die Lyrikbeiträge kuratiert und sie die der bildenden Kunst.
Zuletzt von Hüttenberger, der im Printbereich neun Einzeltitel und drei Mitherausgaben vorweisen kann, erschienen sind: »Komm’ mit, sagte der Esel. 27 Grimm’sche Märchenverdichtungen« (Neuauflage, mit Illustrationen von Milena Breiter, Heinevetter 2021), »Der Bildungsstruwwelpeter. Lästige Geschichten und kritzelige Bilder über das deutsche Schulwesen« und »Auf den Busch geklopft. Verdichtete Anmerkungen zum deutschen Schulsystem« (beide: Heinevetter 2018).
www.MichaelHuettenberger.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.