Die Behauptung ›Lyriker haben keinen Humor‹ gehört zu den unausrottbaren Missverständnissen. Doch gerade in dieser literarischen Gattung blüht Humor in allen Facetten. Alfons Schweiggert stellt an jedem 25. des Monats lyrischen Humor und humorvolle Lyriker in seiner Rubrik »Humor in der Lyrik« vor. Als Kolumnist von DAS GEDICHT blog will er damit Anregungen geben, Humor in der Lyrik zu entdecken und humorvolle Vertreter dieser Gattung (wieder) zu lesen.
Kennengelernt habe ich James Krüss im März 1982. Damals lud ich ihn zur Mitarbeit an der von mir herausgegebenen Anthologie »Ein Rabe und ich« ein, in die ich ausschließlich Gedichte und Geschichten zum Thema »Raben« aufnahm. 1984 wurde das Buch in die Bestenliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis aufgenommen. »Da ich selber ein fleißiger Anthologist bin«, schrieb mir James, »habe ich nichts gegen eine Mitarbeit.« Kurze Zeit später erhielt ich zwei Gedichte von ihm: »Die Regenraben«, das ich in die Anthologie ebenso aufnahm wie »Rabeneltern«: »Wenn die Raben / Kinder haben, / Kümmern sie sich drum. / Rabenmutter / Holt das Futter / Und fliegt weit herum. // Rabenvater / Scheucht die Kater / Oder Katzen weg. / Wenn die Kleinen / Ängstlich greinen, / Kriegt er einen Schreck. // […] Sagt nun selbst: / Sind solche Raben / Rabeneltern? Nein! / Laßt uns wünschen, / Liebe Leute, / Manche Menschen würden heute / Eltern wie die Raben sein.«
Ja, James Krüss machte es Freude, Gedichte über Tiere zu schreiben, nicht nur über Raben im Regen, den faulen Walfisch Paul oder das Eichhorn Willibald, das sich im Wald mit einem Bären in die Wolle kriegt, sondern auch über die rheumatische Maus, über Möpse, die Schnäpse trinken, und über Stiere, die mithilfe grüner Brillen nicht länger rotsehen. Ebenso inspirierten ihn Fahrzeuge zu unvergesslichen Texten. So rattern, knattern, fauchen und zischen noch heute die nette alte »Henriette Bimmelbahn«, »Der blaue Autobus« oder »Das U-Boot Fritz« durch die Kinderzimmer.
Zur Welt kam James Krüss 1926 auf der Nordsee-Insel Helgoland. Sein Vater war Elektriker, die Mutter die Tochter eines Hummerfischers. Schon mit fünf Jahren schrieb er sein erstes Gedicht, natürlich in seiner friesischen Muttersprache. Im Alter von zehn Jahren gründete er die Schülerzeitschrift »Kneifzange«, weil er sich über einen seiner Lehrer ärgerte. Zu Hause fühlte er sich wohler: »Die Spielzimmer, Spielzeuge und Bücher meiner Kindheit, an die ich mich besonders gern erinnere«, erzählte er später, »waren kraus, verschroben und alles andere als mustergültig. Bei jedem modernen Test, sei er pädagogisch, psychologisch oder einfach ästhetisch, hätten alle diese Räume, Sachen und Bücher schlecht abgeschnitten.« Nach dem Abschluss der Mittelschule 1942 verließ er die Insel und begann eine Ausbildung zum Lehrer, auch wenn er später nie in diesem Beruf arbeitete und, wie er immer wieder stolz bemerkte, deshalb »auch nie irgendwelche Pensionsansprüche erwarb«.
1944 wurde der 18-Jährige zur Luftwaffe eingezogen, überlebte zu seinem Glück und hielt sich nach Ende des Kriegs zuerst in Cuxhaven bei den Eltern, dann in Reinbek bei Hamburg auf. Für die von der Insel vertriebenen Helgoländer gründete er eine Zeitschrift. 1946 erschien sein erstes Buch »Der goldene Faden« mit »unfrommen Legenden«. 1949 zog er nach Lochham bei München. Dort lernte er Erich Kästner kennen, dessen Buch »Die Konferenz der Tiere« er für den Rundfunk umarbeiten durfte.
Wie mir Krüss in einem Brief vom 2. März 1982 mitteilte, lebte er elf Jahre ganz in meiner Nähe, ohne dass wir uns begegneten: »Ja, in Lochham, Kerschensteinerstraße«, so schrieb er mir, »lebte ich von 1949 bis 1960. Dort entstanden viele meiner Bücher, unter anderem ˏ›Mein Urgroßvater und ich‹ und ›ˏTimm Thaler oder Das verkaufte Lachen‹. Damals wanderte ich oft zu Fuß zur Straßenbahn in Pasing, badete in der Kiesgrube oder besuchte eine kleine Waldwirtschaft. Es war ein bewegtes Jahrzehnt, in dem ich Kästner oft täglich sah.«
1953 erschien sein erstes Bilderbuch »Hanselmann reist um die Welt«, 1956 folgte »Der Leuchtturm auf den Hummerklippen«, in dem sich der Leuchtturmwärter Johann und die Möwe Alexandra lustige, traurige, wundersame, aber auch lehrreiche Geschichten erzählen. Für »Mein Urgroßvater und ich« erhielt er 1960 den Deutschen Jugendbuchpreis. In dieser Sammlung aus Geschichten und Gedichten erzählen und reimen der sehr alte und der junge Boy um die Wette. Anlässlich der Preisverleihung durfte Krüss sogar im Fernsehen in der »Tagesschau« eine kleine Passage aus diesem Buch vortragen, eine Werbung, durch die er schlagartig berühmt wurde. In seinem großen Roman »Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen« (1962) schildert er, wie Timm sein Lachen an den Teufel verliert und thematisiert den zersetzenden Einfluss von Geld und Macht gegenüber humanen Verhaltensweisen. »Mein größtes Anliegen ist es«, so Krüss, »den Kindern nicht nur von Gutem und Bösem zu erzählen, sondern auch, wann das Gute anfängt böse zu werden.« Jedes Jahr erschienen nun meist mehrere Bücher des umtriebigen Autors, der auch für Zeitungen und Zeitschriften, fürs Radio, Theater und Fernsehen arbeitete.
In der Anthologie »So viele Tage wie das Jahr hat« sammelte er Kindergedichte aus der Vergangenheit und Gegenwart und in »Die Hirtenflöte« europäische Volkslieder. In der Fernsehserie »ABC und Phantasie« (1963 bis 1964) regte er die Zuschauer zu Sprachspielereien an. Eigene, zumeist humorvolle Kindergedichte erschienen u.a. in »Der wohltemperierte Leierkasten«, in dem auch das zärtliche Gedicht vom Garten des Herrn Ming Eingang fand, in dem der Gärtner Ming die Wasserrose Cathrina liebt, die aber nur Augen für den Goldfisch Wu hat, der seinerseits das Hühnchen Schu-Schu verehrt, das sich jedoch ausschließlich zu Ming hingezogen fühlt. Das Gedicht endet mit den Zeilen: »Man liebt sich sanft und leise. / Doch keiner liebt zurück. / Und niemand in dem Kreise / Hat in der Liebe Glück. / Sie leben und sie warten, / Sind traurig und verliebt / In diesem kleinen Garten / Von dem es viele gibt.«
In dem Gedicht »Das kleine Land Pimpluzie«, dem »kleinsten Land der Erde hinter Bayrisch-Moos« leben nadelkopfgroße Menschen. In einem anderen seiner Gedichte mit dem Titel »Die knipsverrückte Dorothe« nimmt Krüss die heutige Selfie-Manie vorweg. Was mich an James Krüss Kindergedichten bis heute beeindruckt, ist sein Sprachwitz, sein Spaß am Sprachspiel, das Kindliche, ohne je kindisch zu sein. Das alles lässt sein umfangreiches Werk, das Hunderte von Büchern umfasst, die in 40 Sprachen übersetzt wurden, so spielerisch leicht wirken. Es sind Gedichte, Geschichten, Fabeln, Balladen, Liedtexte und Romane – die meisten für Kinder.
1960 bezog Krüss ein Haus mit Garten in Gilching, wo er bis 1966 lebte. Doch in Wahrheit fühlte sich der Inselmann Krüss schon immer zu Inseln hingezogen. Nach einem Aufenthalt auf Teneriffa, kaufte er sich 1965 auf Gran Canaria in dem kleinen Dorf La Calzada ein Häuschen, in dem er bis zu seinem Tod gemeinsam mit seinem einheimischen Lebensgefährten Dario Perez wohnte. 1968 wurde er für sein Gesamtwerk mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis, dem Internationalen Jugendbuchpreis, ausgezeichnet. In seinen letzten Lebensjahren wurde es krankheitsbedingt still um ihn. Am 2. August 1997 starb er auf Gran Canaria im Alter von 71 Jahren. Bestattet wurde er, wie er sich das gewünscht hatte, vor seiner Heimatinsel Helgoland auf hoher See. »Hat James Krüss Glück gehabt?« fragte Erich Kästner einmal und antwortete: »Freilich! Auch Glück ist ein Talent, und wer kein Glück hat, hat ein Talent zu wenig.«
Vergessen ist dieser liebenswerte Poet, der über sich selbst genau so herzlich lachen konnte, wie über andere, bis heute nicht. Noch immer zählt er mit seinem Werk von großer Tiefe, Weisheit und Ehrlichkeit zu den erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautoren deutscher Sprache. Heute pflegt man sein Andenken im James-Krüss-Turm in der Internationalen Jugendbibliothek im Westen Münchens, in dem der schriftstellerische Nachlass des Dichters aufbewahrt ist. Auf dem Hof des Museums Helgoland steht außerdem ein kleines James-Krüss-Museum und seit 2013 wird alle zwei Jahre der nach ihm benannte James Krüss Preis für internationale Kinder- und Jugendliteratur an Autoren verliehen, deren Werk »Erzählkunst, Weltoffenheit und Toleranz« ausstrahlt.
»Humor in der Lyrik« wird Ihnen von Alfons Schweiggert präsentiert. Der Münchner Schriftsteller veröffentlichte neben Erzählungen und seinem Roman »Das Buch« mehrere Lyrikbände, Biographien und Sachbücher sowie Kinder- und Jugendbücher. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit als Institutsrektor am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München ist er seit 2010 freischaffender Autor. Schweiggert ist Präsidiumsmitglied der Schriftstellervereinigung Turmschreiber und Vorstand der »Karl Valentin-Gesellschaft«.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Humor in der Lyrik« finden Sie hier.