Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
»Mein Lieblingsbuch« (Pep Guardiola) ist da: Band 4 der Werkreihe Miquel Martí i Pol mit folgenden zwei Zyklen dieses hierzulande berühmtesten katalanischen Dichters in einem zweisprachigen Doppelband: »Buch der Abwesenheiten« (Llibre d‘absències, 1984) & »Die schönen Wege« (Els bells camins, 1984-1985).
Bei der Hommage im Sommer 2015 lautete eine der werkgerechten Fragen des Moderators Michael Ebmeyer, der die Antworten jenes Abends ins Deutsche übersetzte, an den Lyrikliebhaber Pep Guardiola im Literaturhaus München bezüglich des großen Freundes Miquel Martí i Pol, welche seine bevorzugten Gedichte des Lieblingsdichters sein würden. An dieser Stelle verwies Pep Guardiola auf das »Buch der Abwesenheiten« (Llibre d’absències), in dem sich seine Lieblingsgedichte befinden, die von Leben, Liebe und Tod in einer äußerst besonderen Art und poetischen Weise handeln, dass er es als »mein Lieblingsbuch« (Pep Guardiola) bezeichnete.
Miquel Martí i Pol
INFINITAMENT CLARA
Infinitament clara,
la teva llunyania no m’inquieta,
perquè la teva mort se’m converteix,
a poc a poc, en pràctica de vida.
Tot és fluent al lloc on ara et penso
i el contrapunt del teu silenci posa
l’accent precís al blau d’aquesta tarda
que al cap dels dits, molt lenta, se m’esfulla.
UNENDLICH HELL
Unendlich hell,
deine Abwesenheit beunruhigt mich nicht,
weil dein Tod sich für mich allmählich
in Lebenserfahrung verwandelt.
Alles fließt ständig zum Ort, an dem ich dich denke,
und der Kontrapunkt deiner Stille setzt
den genauen Akzent im Blau dieses Nachmittags,
der mich an den Fingerkuppen, sehr langsam, zerpflückt.
Aus dem Katalanischen übertragen von Juana & Tobias Burghardt
Manche sehen darin zutreffend auch eine Fortschreibung des Werkes »Liebe Marta« (Estimada Marta), das zu den schönsten erotischen Dichtungen der katalanischen Moderne und meistgelesenen Büchern von Miquel Martí i Pol in Katalonien gehört, ein weiterer trutziger Poesie-Bestseller.
Die Gedichte von Miquel Martí i Pol werden seit Jahren gern gelesen und in vielschichtigen Lesekreisen geschätzt; inzwischen auch dank jener internationalen Kooperation zwischen dem Katalanischen Kulturinstitut Ramón Llull und dem Goethe-Institut bei der begeisternden Crossover-Lyriklesung mit Pep Guardiola, die im erstmaligen Literaturhaus-Livestream europaweit mitverfolgt wurde. Pep Guardiola las eine Auswahl aus seinen poetischen Werken, die in der Stuttgarter Edition Delta bislang erschienen waren: »Der Bereich aller Bereiche & Nach allem«, »Liebe Marta & Haikus in Kriegszeiten«, »Paralavà-Suite gefolgt von Jemand wartet & Buch der Einsamkeiten«. Die Medien berichteten massiv darüber, angefangen mit dem ARD-Nachtmagazin, gefolgt vom Mittagsmagazin – bis zum Kulturmagazin Aspekte im ZDF, sowie Deutschlandfunk, BR-Radio, dradio, Sport 1, Eurosport, Der Spiegel, Focus, Süddeutsche Zeitung, F.A.Z., Die Zeit, Tagesspiegel, Die Welt, Stuttgarter Zeitung, Südwestpresse, Schwäbische Zeitung, Badische Zeitung, Bild, Berliner Morgenpost, Kleine Zeitung, Freitag, Abendzeitung, Münchner Merkur, Rheinische Post, Donaukurier, Neue Zürcher Zeitung, Literaturhausmagazin, die internationale Presse und das französische Videoportal Daily Motion (Paris) in insgesamt fünf Sprachen sowie im glanzvollen Bericht von Jan-Eike Hornauer »›DIE GROSSEN GEDICHTE SIND IMMER AKTUELL‹ – LYRIK MIT PEP: GUARDIOLA LIEST MARTÍ I POL« auf DAS GEDICHT blog.
Miquel Martí i Pol war seit 1956 mit Dolors Feixas verheiratet. Sie bekamen zwei Kinder, 1958 eine Tochter und 1965 einen Sohn, die sie in Roda de Ter großzogen. Im Jahr 1969 begannen die ersten Symptome der Erkrankung an Multipler Sklerose, die schrittweise immer heftiger wurde. 1973 musste er die Textilfabrik verlassen und mit den krankheitsbedingten Einschränkungen zurechtkommen. Inzwischen war er ein bekannter Dichter geworden, dessen Gedichte von mehreren berühmten Musikers des »Neuen katalanischen Lieds« vertont wurden, und engagierte sich für die Renaissance der katalanischen Kultur und Sprache in der niedergehenden Franco-Diktatur und aufkommenden Demokratisierung Spaniens. Aus jenen Umbrüchen und dem Wiedererwachen der katalanischen Selbstbesinnung mit selbstbestimmter Identität stammte sein Lyrikband »L’àmbit de tots els àmbits« (Der Bereich aller Bereiche).
Im Sommer 1984 starb Dolors Feixas und hinterließ eine klaffende Leere in der Seele des Dichters. Zwei Wochen später begann Miquel Martí i Pol mit den ersten stammelnden Wortskizzen und schrieb innerhalb eines Monats das »Buch der Abwesenheiten« (Llibre d’absències) wie im Fieber, um nicht verrückt zu werden. Er musste sich innerlich neu sortieren und wesentlich werden. Bemerkenswert sind die vorangestellten Zitate von Umberto Saba und Buddha, die den orphischen Dreiklang des menschlichen Daseins und Werdens im Verhältnis zu den »vier edlen Wahrheiten« gleichsam bewusst ausleuchten: Tod, Liebe und Leben im Verhältnis zum Leid, zum Ursprung des Leids, zur Aufhebung des Leids und zum Weg, der zur Aufhebung des Leids führt.
Und es ist der Gedanke
des Todes, der letztlich hilft zu leben.
UMBERTO SABA, Das Liederbuch
BUDDHA SPRACH:
Da wir sie nicht verstanden, weil wir die vier edlen Wahrheiten nicht begriffen, wurde von mir und von euch, ihr Mönche, dieses langwierige Kreisen von Dasein zu Dasein durchlaufen. Und welche sind diese vier Wahrheiten?
Es sind die edle Wahrheit des Leides, die edle Wahrheit vom Ursprung des Leides, die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leides und die edle Wahrheit des Weges, der zur Aufhebung des Leides führt. Da wir diese vier edlen Wahrheiten nicht verstanden, weil wir sie nicht begriffen, mussten wir uns, sowohl ich als auch ihr, immer wieder im Rad von Dasein zu Dasein drehen.
Reden des Buddha
Nicht von ungefähr charakterisierte Pep Guardiola das »Buch der Abwesenheiten« wie folgt: »Es ist ein sehr trauriges Buch, aber man muss es lesen. Unbedingt.«
Zwischen Spätsommer 1984 und Frühjahr 1985 schrieb Miquel Martí i Pol dann am zweiteiligen Zyklus »Els bells camins« (Die schönen Wege), in dem er die endgültige Auflösung eines Traums weiter verinnerlichte:
»Wie wenig Raum / brauchen wir zum Leben und Begreifen. / Jetzt ist alles einfach, / und in der gläsernen Luft erklingen die Worte, / ihr Widerhall bezaubert mich.«
(Que poc espai / necessitem per viure i per comprendre. / Ara tot és senzill, / i en l’aire de cristall dringuen els mots / i el seu ressò em fascina.)
Allmählich fand er zu den kleinen Dingen des Alltags zurück:
»und ich entdecke neue Glanzlichter des Lebens / in den alltäglichsten Dingen. «
(i descobreixo nous esclats de vida / en els objectes més quotidians.)
Er suchte darin das wirkliche Leben und »der Wind« (el vent) kündigte ihm nun einen anderen Traum an. Er lernte Montserrat Sans kennen, las mit ihr seine jüngsten Gedichte und verliebte sich:
»Halte nie / seinen Gang auf, das Leben. / Und es ist der Glaube,/ dass die Liebe befreit, der mich erneut / mit erwartungsfrohen Augen aufrechterhält. «
(No detura / mai el seu curs, la vida. / I és el creure / que l’amor allibera el que em manté / amb els ulls expectants altra vegada.)
Die unerwartete Wendung erhellte die »Traumhorizonte« des Dichters. Ende November 1986 heirateten sie und blieben bis zu seinem Tod Anfang November 2003 zusammen.
Auf Wunsch von Montserrat Sans haben wir zum bewegenden »Lieblingsbuch« von Pep Guardiola diesen unmittelbar anschließenden Folgeband hinzugefügt, der jene schicksalsfügenden Momente im Leben und Werk des katalanischen Dichters Miquel Martí i Pol widerspiegelt:
»Unveränderlich / kreisen die Sterne durch den Raum / und die Jahre vergehen, gleichgültig deinen / Kleinigkeiten gegenüber. / Nimm ein Beispiel: / nur sein, wer du bist, wird dich retten, / sein, wer du bist, und dich in den Dingen erkennend, / so demütig, dass sich dir in allen / die unabänderliche und tiefe Friedfertigkeit / des Lebens und Bestehens zeigt, die du so sehr wünschst.«
(Giravolten / immutables els astres per l’espai / i transcorren els anys, indiferents / a les teves foteses. / Pren-ne exemple: / només essent qui ets podràs salvar-te, / essent qui ets i aprenent-te en les coses, / tan humilment que en totes se’t reveli / la inalterable i fonda placidesa / de viure i perdurar que tant desitges.)
Der Münchner Schriftsteller Georg M. Oswald wies in seinem Beitrag »Lesungen. Lyrik mit Pep« in »Der Spiegel«, Nr. 28, 4. Juli 2015, darauf hin, dass die Gedichte von Miquel Martí i Pol in einer mehrbändigen Werkreihe im Stuttgarter Literaturverlag Edition Delta bereits eher erschienen sind, als noch niemand die Berührung mit dem »Scheinwerferlicht der Champions League« ahnen konnte.
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Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie und zuletzt »Septembererde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.