Im babylonischen Süden der Lyrik – Folge 3: »LAS HUELLAS DEL POEMA EN EL AGUA: BRIEF AN JUAN GELMAN«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

… y un miauuu cariñoso para Löttchen
de parte de un tipo que ama a los gatos,
Juan

Queridísimo Juan,

Löttchen nahm Dein »herzliches Miauuu eines Typen, der die Katzen liebt«, blinzelnd entgegen und räkelte sich in der Sonne, die durch das Fenster auf ihr Fell strahlte. Inzwischen ist auch der blätterlose Holunder zurückgeschnitten worden. Nicht alles erreicht man im Leben. Ich weiß, dass Du gerne vor zwölf Jahrhunderten nach Babylon und Bagdad gefahren wärst, um Abu Nuwas zu treffen und mit ihm ein Glas Rotwein zu trinken und ihn zu fragen, warum er in »Tausendundeiner Nacht« erscheint: »Alf Leyla Wa Leyla«.
Stell Dir vor, Juan, dass hier die Druckerei zwei, drei Exemplare von Deinem jüngsten Buch quasi »arabisch« eingehängt hat. Eigentlich hätte ich Dir davon auch eins schicken sollen, oder? Da lässt sich Deine poetische Kom/position »la cuna« (die Wiege) nach Abu Nuwas (747? – 815? / Bagdad – Basra – Kufa) in umgekehrter Seitenfolge, von rechts nach links, lesen:
 

y mis versos tendrán más vuelo y música
que todos los jardines de bagdad/
(…)
la noche negra se hizo día/
y me sirvió una transparencia
que cegó el ojo/la memoria/
si mezclaran esa luz con la luz
su unión engendraría otra luz/
la no vista/la última/
ahora domeño el tiempo/
(…)
…bajo
soles que fueron/…
…meciendo
la cuna de mis versos dormidos/
 

und meine Verse werden mehr Flug und Musik haben
als alle Gärten Bagdads/
(…)
die finstere Nacht wurde Tag/
und reichte mir eine Transparenz
die das Auge blendete/das Gedächtnis/
mischte man jenes Licht mit dem Licht
erzeugte ihre Verbindung ein anderes Licht/
das ungesehene/das letzte/
jetzt bändige ich die Zeit/
(…)
… unter
Sonnen die waren/…
… beim Wiegen
der Wiege meiner schlafenden Verse/
 

Du erinnerst Dich an Frankfurt, wo Du immer pünktlich am frühen Nachmittag zum Mate bei uns erschienen bist, als ob Du es gewusst hättest, wenn es soweit war. Beinahe wärst Du Literaturnobelpreisträger geworden, wie der britische Buchmacher Ladbrokes plc im Stadtteil Rayners Lane in London Borough of Harrow vermutete. Das Leben ist das Leben! Und Du warst gewohnt guter Laune und meist auch zu Späßchen aufgelegt. Deine leuchtenden Augen und Deine vertraute Stimme werde ich nicht vergessen.

Juan Gelman und Tobias Burghardt auf der Frankfurter »Argentinien«-Buchmesse 2010. Foto: Delta-Archiv.
Juan Gelman und Tobias Burghardt auf der Frankfurter »Argentinien«-Buchmesse 2010. Foto: Delta-Archiv.
Juan Gelman signiert seine zweisprachige Neuerscheinung »Welteln« (Mundar). Foto: Delta-Archiv.
Juan Gelman signiert seine zweisprachige Neuerscheinung »Welteln« (Mundar). Foto: Delta-Archiv.

Wir feierten Deinen soeben erschienenen Band »Welteln« (Mundar), von dem Du Dir gerne auch eine Postkarte der Umschlagszeichnung wünschtest, und verabredeten dabei das neue Doppelbuch, als wir die starken ukrainische Zigaretten an der milden Oktoberluft vor dem Seiteneingang pafften, die ein chinesischer Dichterfreund aus Hangzhou, der gerade die Ukraine besucht hatte, uns mitgebracht hatte. Alberto Szpunberg hätte mit von der Partie sein sollen. Wir alle vermissen Dich so sehr.

Con más abrazotes infinitos,

Tobias et al.

P.S.: Weltweit wird weiterhin über die uruguayische Suche nach María Claudia berichtet. Die immer noch offene Suche nach den sterblichen Überresten von María Claudia, Deiner Schwiegertochter, irgendwo in Montevideo, Uruguay, geht aktuell weiter, denn: »Jeder einzelne Mensch hat das Recht auf ein Grab und einen Grabstein mit seinem Namen, wodurch er in seine eigene Geschichte und in die Geschichte unserer Kultur und unserer Zivilisation wieder eingegliedert wird.« (Juan Gelman)
 

Juan Gelman

cuando

cuando la Muerte te haga prisionero/
tu casa/¿de qué te servirá?/
aunque esté hecha de ladrillos/
¿de qué te servirá?/
tus tíos/tus hermanos/tu mujer/
¿de qué te servirán?/
morirás/ellos
te ofrecerán un cántaro (rajado)/una esterilla (rota)/el sudario/
te dejarán en el campo crematorio/
y habrás muerto/sus lágrimas
pronto se secarán/
no perderán el apetito/
no lo olvides cuando estés allá abajo
contestando al notario de la Muerte/
¿hablarás/ya desnudo?/
ni bienes ni parientes te servirán/
ellos
no te acompañarán/
¿a quién pertenecés?/o sea/¿quién te pertenece?/
cuando te fundas con la última pureza
tampoco lo sabrás/
corazón obstinado: te hacés el que no entiende/
aunque mil veces perseguiste
las huellas del poema en el agua/

ramprasad
(1718-1775 / kumarhatta – calcutta – kumarhatta)

wenn

wenn der TOD dich gefangen nimmt/
dein Haus/wozu wird es dir nutzen?/
obwohl es aus Ziegelsteinen gebaut ist/
wozu wird es dir nutzen?/
deine Onkel/deine Brüder/deine Frau/
wozu werden sie dir nutzen?/
du wirst sterben/sie
werden dir einen (gesprungenen) Krug anbieten/
eine (ausgefranste) Strohmatte/das Schweißtuch/
sie werden dich auf dem Einäscherungsgelände zurücklassen/
und du wirst gestorben sein/ihre Tränen
werden bald trocken sein/
sie werden den Appetit nicht verlieren/
vergiss es nicht wenn du dort unten
dem Notar des TODES Rede und Antwort stehst/
sprichst du dann/schon nackt?/
weder Güter noch Verwandte werden dir nutzen/
sie
werden dich nicht begleiten/
zu wem gehörst du?/also/wer gehört zu dir?/
wenn du mit der letzten Reinheit verschmilzt
wirst du es auch nicht wissen/
verstocktes Herz: du tust so als verstündest du nicht/
obwohl du sie tausendmal verfolgt hast
die Spuren des Gedichts im Wasser/

Ramprasad
(1718-1775 / Kumarhatta – Kalkutta – Kumarhatta)
 

Ins Deutsche übersetzt von Juana und Tobias Burghardt

Juan Gelman: »KOM/POSITIONEN & DARUNTER – COM/POSICIONES & DIBAXU (DEBAJO)«Juan Gelman
KOM/POSITIONEN & DARUNTER – COM/POSICIONES & DIBAXU (DEBAJO)

Gedichte, dreisprachig: Spanisch – Sephardisch (tw.) – Deutsch. Zwei Einzeltitel aus den Jahren 1984-1985 und 1983-1985 in einem Band. Umschlaggestaltung von Juana Burghardt. Aus dem argentinischen Spanisch und Sephardischen von Juana & Tobias Burghardt. Mit einem Nachwort von Tobias Burghardt.
Edition Delta, Stuttgart 2013
Softcover, 201 S.
€ 17,50 (D)

»KOM/POSITIONEN & DARUNTER – COM/POSICIONES & DIBAXU (DEBAJO)« bei Edition Delta kaufen

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie und zuletzt »Septembererde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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