Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 72: »›SOBRE SALVAJES – ÜBER WILDE‹ ODER ›TODO COMIENZO ES LA AVENTURA – ALLER ANFANG IST DAS ABENTEUER‹ (GUSTAVO PEREIRA)«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

»Heutzutage lateinamerikanischer Dichter zu sein, ist ein Bewusstseinszustand«, lautet die Selbstbeschreibung des venezolanischen Dichters Gustavo Pereira, der 1940 auf der karibischen Isla Margarita geboren wurde, die zu den Kleinen Antillen gehört und einstmals bei den indigenen Ureinwohnern Guayquerí, den Nachfahren der Kariben und Arawak, »Paraguachoa« (Ort der reichen Fischgründe oder Meeresvolk) hieß. Das Bewusstsein des kulturellen Ursprungs und ihrer Fragmentierung wird aber auch in Sprache und Erkenntnis gewandelt, wenn der Blick auf die Vielfalt und universelle Weisheit fällt, die ihr innewohnt.

 

Gustavo Pereira

PARA VOLVER ATRÁS

Yo querría volver atrás sólo para comenzar otra vez
Porque todo comienzo es la aventura

Yo querría volver atrás sólo para hacer adulta mi infancia
Porque la infancia es rueda inencontrable

Yo querría volver atrás sólo para saber
cómo era tu cuerpo entonces sombra apenas recordada.

 

Gustavo Pereira

UM RÜCKWÄRTS ZU GEHEN

Ich wollte rückwärtsgehen, nur um wieder zu beginnen
Denn aller Anfang ist das Abenteuer

Ich wollte rückwärtsgehen, nur um meine Kindheit erwachsen zu machen
Denn die Kindheit ist ein unauffindbares Rad

Ich wollte rückwärtsgehen, nur um zu wissen,
wie dein Körper damals kaum erinnerter Schatten war.

 

Übertragen von Juana & Tobias Burghardt

© Gustavo Pereira

 

Der venezolanische Dichter Gustavo Pereira
Der venezolanische Dichter Gustavo Pereira (Foto: Enrique Hernández-D’Jesús, Caracas)

 

Gustavo Pereira entwickelte eine ureigene Poesieform, die seine Sinne für die Sensibilität und den Rhythmus indigener Gedichte entfaltete. Er erfand dafür das Neuwort »somari«:

»Mit diesem Wort wollte ich einen Gedichttypus benennen, der durch seine Kürze und zugleich durch seine Ungezwungenheit, seine Spontaneität gekennzeichnet ist.«
Gustavo Pereira

Sowohl Erkenntnis als auch Erleben, Imagination, Rätsel, Traum, Wissen, Liebe und Erfahrung verschmelzen darin zur poetischen Möglichkeitsform und Gestaltfreiheit, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 32 und Folge 42.

 

Gustavo Pereira

SOMARI

La rosa no es rosa
sino cuando el hombre la mira.

 

Gustavo Pereira

SOMARI

Die Rose ist nicht Rose,
außer wenn der Mensch sie anschaut.

 

Übertragen von Juana & Tobias Burghardt

© Gustavo Pereira

 

Gustavo Pereira

SOMARI DE LA RABIA

Toda rabia es salvaje menos la justa rabia
de los salvajes.

 

Gustavo Pereira

SOMARI DER WUT

Alle Wut ist wild, außer der gerechten Wut
der Wilden.

 

Übertragen von Juana & Tobias Burghardt

© Gustavo Pereira

 

Auf diesem Pfad beschäftigte sich der karibische Dichter Gustavo Pereira mit den indigenen Kulturen und Sprachen Venezuelas, wobei sein Augenmerk vor allem den Pemón-Indios der Gran Sabana, einer gewaltigen Hochfläche im Südosten Venezuelas, angrenzend an Nordbrasilien und Guyana, mit klüftigen Täler, mächtigen Tafelbergen (Tepuis), riesigen Wasserfällen und weitverzweigten Höhlen, gilt. Er studierte ihre gleichnamige Sprache, ihre Mythen, ihre Poesie, die meist musikalisch begleitet wird.

 

Gustavo Pereira

SOBRE SALVAJES

Los pemones de la Gran Sabana llaman al rocío Chirïké-yetaakuú, que significa Saliva de las Estrellas; a las lágrimas Enú-parupué, que quiere decir Guarapo de los Ojos, y al corazón Yewán-enapué: Semilla del Vientre. Los waraos del delta del Orinoco dicen Mejo-koji (El Sol del Pecho) para nombrar al alma. Para decir amigo dicen Ma-jokaraisa: Mi Otro Corazón. Y para decir olvidar dicen Emonikitane, que quiere decir Perdonar.

 

Los muy tontos no saben lo que dicen
Para decir tierra dicen madre
Para decir madre dicen ternura
Para decir ternura dicen entrega

Tienen tal confusión de sentimientos
que con toda razón
las buenas gentes que somos
                           les llamamos salvajes.

 

Gustavo Pereira

ÜBER WILDE

Die Pemón-Indios der Gran Sabana nennen den Tau Chirïké-yetaakuú, was Sternenspeichel bedeutet; die Tränen Enú-parupué, was Zuckerrohrschnaps der Augen bedeutet, und das Herz Yewán-enapué: Bauchsaat. Die Warao-Indios vom Orinoco-Delta sagen Mejo-koji (Die Sonne der Brust), um die Seele zu benennen. Um Freund zu sagen, sagen sie Ma-jokaraisa: Mein Anderes Herz. Und um Vergessen zu sagen, sagen sie Emonikitane, was Verzeihen bedeutet.

 

Die Närrischen wissen nicht, was sie sagen
Um Erde zu sagen, sagen sie Mutter
Um Mutter zu sagen, sagen sie Zärtlichkeit
Um Zärtlichkeit zu sagen, sagen sie Hingabe

Ihre Gefühle sind derart verwirrt,
dass ganz berechtigterweise
die guten Menschen, die wir sind,
                           sie Wilde nennen.

 

Übertragen von Juana & Tobias Burghardt

© Gustavo Pereira

 

"Somaris" von Gustavo Pereira
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

 

»SOMARIS« (Gedichte, zweisprachig: Spanisch-Deutsch) von Gustavo Pereira bei Edition Delta

 

 

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018) und sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See«. 2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


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