Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 74: »›EREMUK – CANTARES – LIEDER‹ (GUSTAVO PEREIRA) – INDIGENER PEMÓN-NACHSATZ ZU FOLGE 72«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Der karibische Dichter Gustavo Pereira studierte die indigene Sprache Pemón, »überwältigt« von ihren Mythen und ihrer meist musikalisch begleiteten Poesie. Aus »Bewunderung« schrieb er daran anknüpfend selbst einige Gedichte in der altehrwürdigen und geschichtsträchtigen Pemón-Sprache, wobei der magische Gedichtzyklus »Eremuk« entstand. Gustavo Pereira übertrug danach seinen Pemón-Zyklus ins Spanische: »Cantares« (»Lieder«).

 


Gustavo Pereira

MAKUNAI-PIÁ

Makunai-piá Wei-mukú
¿Atön-tö mekowanpö-dan?
¿Anekama paí pra medán?
¿Ö pök av-ichí
dakó?
Amörö piak u-yakón essempoikasak daú
pori’-pe mekupuí
Apok ukakö
Masa uei n-etachiká-í
turetá dannaú

Tesonansé maroí eremá-nintok.

 


MAKUNAI-PIÁ

Makunai-piá Hijo del sol
¿en dónde moras?
¿No quieres decirlo?
¿Qué estás haciendo
compañero?
Cuando mi hermano llegue a ti
trátalo bien
Trae unas astillas
Prende fuego
Espera a que sea mediodía
en medio de la selva

Llévalo escondido para que no lo vean.

 


Gustavo Pereira

MAKUNAI-PIÁ

Makunai-piá, Sohn der Sonne
wo wohnst du?
Willst du es nicht sagen?
Was machst du
Gefährte?
Wenn mein Bruder zu dir kommt
sei gut zu ihm
Bring einige Holzsplitter
Mach Feuer
Warte, bis es Mittag wird
mitten im Urwald

Nimm ihn verborgen mit, damit sie ihn nicht sehen.

 

Übertragen von Juana & Tobias Burghardt

© Gustavo Pereira

 

Der karibische Dichter Gustavo Pereira
Der karibische Dichter Gustavo Pereira (Foto: Enrique Hernández-D’Jesús, Caracas)

 

Gustavo Pereira, der sich nachhaltig für die indigenen Grundrechte einsetzte, schrieb über das sprachliche Abenteuer der Pemón-Gedichte auch »aus Verbundenheit mit einem Volk, das wie etliche andere unseres amerikanischen Kontinents alten und neuen Kolonisatoren mit dem Schild seiner uralten Weisheit widerstand«, wie er im Vorwort vermerkt.

 


Gustavo Pereira

IWAN-PÜEKÜN

Iwan-ton arimaraká warantö
kak ponankón-pe iná ichí

¿Amörö nörö tepuí medán?

Dairön neké tusé
a-darö ö payaí.

 


IWAN-PÜEKÜN

Hambrientos como perros
Somos caminantes hacia el cielo

¿Tú también quieres irte?

Aunque no sea cierto
quiero ir contigo.

 


Gustavo Pereira

IWAN-PÜEKÜN

Hungrig wie Hunde
sind wir Wanderer zum Himmel

Möchtest du auch gehen?

Wenngleich es nicht gewiss ist
möchte ich mit dir gehen.

 

Übertragen von Juana & Tobias Burghardt

© Gustavo Pereira

 


Das Pemón gehört zu den agglutinativen Sprachen, die auf der grammatischen Grundlage von Präfixen, Postfixen, Zirkumfixen u.a. sowie lexikalischen Konfixen agieren, wodurch Wortkompositionen entstehen, die symbolisch bis metaphorisch wirken, konkret poetisch. Gustavo Pereira beschreibt die imaginative Sprachbehandlung in den Ursprüngen der Sprache:

»Ihr lexikalischer Reichtum, fast unerschöpflich (…), ihre dichterische Kraft und ihr harmonisches Fließen impulsierten mein Interesse, jenseits der bloßen Lektüre oder Mitteilung. Die Offenbarung ihrer Metaphernwörter als unersetzbare Spiele der Alltagssprache zwang mich, in inneren Bahnen nachzuspüren, die ihrerseits zu anderen, weniger ausdrücklichen und fast immer undurchdringlichen Bahnen führte.

»›Yetaakuú‹ bedeutet Saft der Backenzähne, also: Speichel.
›Chirikö-yetaakuú‹ oder ›chirïké-yetaakuú‹: Sternenspeichel: Tau.
Aber seinerseits kommt ›chirikö‹ oder ›chirïké‹, Stern, von ›chirön‹ oder ›chirén‹: Funke, ›chirön-ká‹ oder ›chirén-ká‹: Funken sprühen, glänzen, ›chirön-tá‹ oder ›chirén-tá‹: funken. ›Chirikö pupaí‹ oder ›chirïké pupaí‹: Sternenschnur: die Plejaden. Das Suffix ›kö‹ oder ›ké‹ bezieht sich auf den Grund, den Ursprung, das Motiv.

›Tuná‹ bedeutet Wasser, Regen, Wolkenbruch, Fluss. Es stammt von ›Tw‹: viel, ausgiebig, und ›Ná‹: abscheuern, schneiden, aber auch als Suffix: Grund, Motiv.
›Tuná yepí‹: Wasserlippe: Ufer.
›Pon yenú‹: Kleiderauge: Knopf.
›Yewán-enapué‹: Bauchsaat: Herz.
›Nakatá‹: Bergspitze, Gipfel: Kopf.
›Enú-parupuó‹: Augenbrühe: Träne.
›Yempatá‹: Ort der Aushöhlungen: das Gesicht.
›Esenumenká‹: zwischen verschiedenen Bildern oder Ideen auswählen: denken.«

Gustavo Pereira

Einige der indigenen Wortbeispiele in Pemón sind an sich schon Metaphysik, Poesie, Mystik und Naturphilosophie in einem, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 32, Folge 42 und Folge 72.

»Eremuk – Cantares & Sobre salvajes – Lieder & Über Wilde« von Gustavo Pereira
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

»Eremuk – Cantares & Sobre salvajes – Lieder & Über Wilde« (Gedichte, dreisprachig: Pemón – Spanisch – Deutsch) von Gustavo Pereira bei Edition Delta

 

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

 

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018) und sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

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