Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 75: »UNGESCHORENE UND DAUERWELLIGE VORSCHLÄGE VON PIATOCK UND REB MARGULIES (ALBERTO SZPUNBERG) GEGEN KRIEG UND ALSO FÜR FRIEDEN«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Sagt einer: »Wenn unser Land gewinnt, wird es bei euch ein neues Land geben. Wenn euer Land gewinnt, wird es unser Land nicht mehr geben.«

Eine hochkniffelige und bitterernste Problemstellung.

Warum?

Es ist KRIEG!

Wo?

In der Nähe. In der Nachbarschaft. Nebenan. Genau dort, wo auch heut noch das Land von Piatock und Reb Margulies wär.

Wer ist Piatock?

Der Barbier von Berdytschiw oder Figaro der Nächstenliebe.

Und Reb Margulies?

Der Stumme in den Debatten der »Piatock-Akademie«, die sinngemäß auch kleingeschrieben werden könnte: »akademie« der kaum wahrgenommenen Leutchen, der Niemande.

Gäb es denn nicht insgesamt eine bessere Lösung?

Vielleicht.

Wem könnte so was nur einfallen?

Wer weiß das schon…

Händeringend, leidgeplagt und verzweifelt suchen Piatock und Reb Margulies nach den richtig berichtigten Worten, um den berüchtigten »Karren« irgendwie, irgendwann aus dem hundselendigen, blutdurchtränkten Dreck alsbaldigst zu ziehen.

Fragt wer: »Und jetzt, wenn nicht jetzt?«

Mal schauen, was Alberto Szpunberg, der Schöpfer von Reb Margulies, und Piatock selbst sich da vorgedacht haben, als sie über den ständigen und in zügellosen Varianten sich steigernden Schlimasel von der Welt regelmäßig nachgrübelten.

Und weil Piatock sich dessen ganz arg bewusst ist, dass überhaupt nicht jede und jeder solche »zaristische« Unbill gutheißt in deren Land, wie auch immer es sich bezeichnen möge, schrieb er mir »мир« – für sich allein … so vor sich hin – in einer dieser sternlosen Nächte – ob jenes dicht schwelenden, beißenden Qualms: ein friedenspolitisch kämpferisches Gedicht, das er eh eigentlich doch eher niemandem hat zeigen wollen. Ach, jemine! Was für ein Dilemma, Piatock! Außer halt eben nun mir…

 


Piatock

мир (MIR)

Wir lieben Mütterchen Russland & Großväterchen Frost,
die uns erzählen von den Kindern und Schneeflöckchen.

Wir singen, wie einst, die Arien der Opern na russkom
und summen geträumt das tiefe, wehende Wiegenlied.

Wir heben die Gläser, versprechen den festen Spruch
der Feier mit Brüdern und Schwestern: Auf das Leben!

Wir essen das Roggenbrot und trinken zwei Wodkas,
wir löffeln im Süppchen die Rote Beete – auch ohne.

Da! Wir verachten die Stürme und Säbel des Krieges,
aschfahles Feuer der Bomben, die Sirenen der Angst.

Die Flucht vor dem Nichts – jenen Fluch der Zerstörung.
Denn wir schassen den Krieg, weil wir FRIEDEN lieben.

Wir lieben Mütterchen und Großväterchen, die uns erzählen,
was war und was ist und was sein wird – schon ohne Furcht.

© Piatock

 

Der argentinisch-jüdische Dichter Alberto Szpunberg
Der argentinisch-jüdische Dichter Alberto Szpunberg (Foto: Delta-Archiv, Stuttgart)

 

Alberto Szpunberg

REB MARGULIS, EL MUDO, EXPONE LA TESIS DEL SÁBADO PERMANENTE

Los bosques, el viento, las fiestas, el caballo de Piatock, hasta ese moscardón que zumba sobre el pozo ciego, todo es sábado,
y aunque el humo trace en el aire absurdos mapas que nacen y ya no son,
cerremos los ojos para que este cielo siga azul, azul, como el cielo de la tierra más soñada,
y abramos los ojos para que este cielo siga azul, azul, como el cielo de la tierra más soñada.

Recorrimos todos los rincones del mundo y las preguntas son las mismas:

¿dónde no tuvimos hijos y sembramos muertos?
¿dónde no mordimos el polvo y volvimos a levantarnos?
¿dónde no perdimos el rumbo y volvimos a perdernos?

Esa piedra, ese disparo, esa brizna de llama que brota en el viento,
hasta la moneda que mi mano busca en el bolsillo y no encuentra,
he ahí que toda tierra es prometida, he ahí que todo día es sábado.

© Alberto Szpunberg

 


Alberto Szpunberg

REB MARGULIES, DER STUMME, STELLT DIE THESE DES DAUERSAMSTAGS VOR

Die Wälder, der Wind, die Feiertage, Piatocks Pferd, auch diese Schmeißfliege, die über der Jauchegrube brummt, alles ist Samstag,
und trotz des Rauches, der sinnlose Landkarten in die Luft zeichnet, die aufkommen und dann nicht mehr sind,
lasst uns die Augen schließen, damit dieser Himmel weiterhin blau bleibt, blau wie der Himmel des am stärksten erträumten Landes,
und lasst uns die Augen öffnen, damit dieser Himmel weiterhin blau bleibt, blau wie der Himmel des am stärksten erträumten Landes.

Wir besuchten alle Winkel der Welt und die Fragen bleiben gleich:

Wo bekamen wir keine Kinder und säten Tote?
Wo bissen wir nicht in den Staub und sind wieder aufgestanden?
Wo verloren wir nicht den Kurs und verliefen uns wieder?

Dieser Stein, dieser Schuss, dieser Funkenregen, der im Wind aufkommt,
sogar die Münze, die meine Hand in der Hosentasche sucht und nicht findet,
eben darum ist jedes Land gelobt, eben darum ist jeder Tag Samstag.

Übertragen von Juana & Tobias Burghardt

© Alberto Szpunberg

 

Übrigens gilt das auch für Syrien, Myanmar, El Salvador, Äthiopien, Somalia und den Jemen, um nur schön ein paar schon gelobte Länder oder dito: der Verheißung – für alle – zu nennen.

Lechajim!

A dank, Reb Margulies! Bedankt, Piatock! Gracias che, Alberto! Meyn lib fraynd un dikhter Avramle! Dyakuyu, Dmytro! Spasybi!

 

"Die Piatock-Akademie" von Alberto Szpunberg
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

»La academia de Piatock – Die Piatock-Akademie« (Gedichte, zweisprachig: Spanisch – Deutsch) von Alberto Szpunberg bei Edition Delta

 

 

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

 

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018) und sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert