Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 87: »ELICURA CHIHUAILAF (MAPUDUNGUN) – NEUE INDIGENE POESIE (ABYA YALA)«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Elicura Chihuailaf (Mapudungun) – Neue indigene Poesie (Abya Yala)

In einer Selbstaussage des Mapuche-Dichters Elicura Chihuailaf heißt es: »Man sagt mir: Die Poesie – die ursprüngliche Sprache – und all das von ihr ›Kontaminierte‹ bleibt der bestmögliche Ausdruck des ständigen Gesprächs zwischen dem Geist und dem Herzen. Es ist die Macht dieses Wortes, das unsere Kulturen noch immer als das Wertvollste bei jeglicher Art der menschlichen und also natürlichen Äußerung betrachten.«

Seine beiden Gedichtbände »Kallfv Kvyen mu ñi Pewma mew – Sueños de Luna Azul« (»Blaue Mondträume«) und »Pewmakechi antv pewmakeetew – El tiempo que nos sueña« (»Die Zeit, die uns träumt«) versammeln die neuen zweisprachigen Gedichte (Mapudungun – Spanisch), die Elicura Chihuailaf zwischen 2008 und 2020 in mehreren Ausgaben und Auflagen veröffentlicht hat, meist in Santiago de Chile, aber auch in Barcelona.

Der Gesprächscharakter seiner Poesie ist tief verwurzelt in der Mapuche-Kultur und begründet die Entwicklung der Erinnerung und des poetischen Ausdrucks im gemeinschaftlichen Rahmen der mündlichen Überlieferung »Nytram« (»Nütram«) – das Gespräch als Kunstform in mehreren literarischen Gattungen.

Wenn etwa der Longko, das Oberhaupt einer Mapuche-Gemeinde, neue Mitteilungen (»Werkv«) persönlich erzählt oder durch einen Boten, genannt »Werken«, übermitteln lässt, so folgt dies einer festen Struktur: Vorstellung, Grußwort, Mitteilung und Dokumentation. Die Vorstellung beinhaltet den Namen des Sprechenden und die von den Eltern gestiftete Bedeutung sowie die landschaftliche und poetische Beschreibung des Ortes seiner Herkunft und der aktuellen Begegnung. Das Grußwort »Chali« kreist um den Gesundheitszustand der Gastgeber, der Gäste und des Sprechenden samt der Natur, Tiere und Pflanzen, des Wassers und der Wege ringsherum. Die Mitteilung, welche die Einladung mit Anreise zum Treffen veranlasst, kann eine Zeremonie »Gillatun« (Hochzeit, Geburt, Tod u.a.), ein Höflichkeitsbesuch oder eine Konfliktbesprechung sein, wobei weise Ratschläge der Ältesten, genannt »Gylam« (»Ngülam«), Erzählungen (»Epew«), Lieder (»Vl«) und Gedichte (»Vlkantun«) eine tragende Rolle spielen. Die Dokumentation geschieht durch die Übergabe eines Wollknäuels mit rotem Faden und mehreren Knoten darin, entsprechend der jeweiligen Anzahl der Mitteilungen und Anliegen, die von der Geschichte der Familien, der Gemeinden, der territorialen Identität und der Mapuche im Allgemeinen handeln. Die gesamte Begegnung und Weisheit des Gesprächs dauert bis zu zwei Tage.

Der chilenische Mapuche-Dichter Elicura Chihuailaf
Der chilenische Mapuche-Dichter Elicura Chihuailaf (Foto: José Donoso / Edition Delta, Stuttgart)

Aus dieser indigenen Tradition schöpft Elicura Chihuailaf, wenn er in seinen naturverbundenen und tellurischen Gedichten über heutzutage drängende Fragen zur prekären Umwelt und ihrer zunehmenden Zerstörung, zur Biodiversität und Gegenseitigkeit, zur Erhaltung des Blauen Planeten Erde, aber auch über politische Ereignisse und soziale Umwälzungen im Mapuche-Land, das sowohl in Chile als auch in Argentinien liegt, mahnend und erinnernd schreibt.

Oder über die Mapuche-Farbe Blau und ihre Poetik des Träumens: »Die Zeit, die träumt. Die wir träumen. Die uns träumt«: »Das Wort entspringt der Natur / und kehrt in das unermessliche Blau zurück / woher es uns erfreut und tröstet / Wenn das Wort glaubt, vermutet, sich zu befragen / ist es jedoch nur das Ungenannte, das es befragt / um es aufzurütteln / um es abzustauben und zu versuchen / ihm seinen ursprünglichen Glanz zurückzugeben / Wozu dann der Wunsch, alles zu sagen / wenn das Jetzt, wie bei einem Gewebe / – in der kreisförmigen Zeit – / aus den Fäden von gestern und morgen / besteht und sich ergänzt? // So spricht zu uns die Zeit, die träumt / die uns träumt. Die wir träumen.«

Der dreisprachige Doppelband »Kallfv Kvyen mu ñi Pewma mew ka Pewmakechi antv pewmakeetew – Sueños de Luna Azul & El tiempo que nos sueña – Blaue Mondträume & Die Zeit, die uns träumt« von Elicura Chihuailaf knüpft nahtlos an sein früheres Hauptwerk »Kallfv Pewma mew ka wezapewmamu – De Sueños Azules y contrasueños – Von Blauen Träumen und Gegenträumen« an, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 70.

 

Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

»Kallfv Kvyen mu ñi Pewma mew ka Pewmakechi antv pewmakeetew – Sueños de Luna Azul & El tiempo que nos sueña – Blaue Mondträume & Die Zeit, die uns träumt«
Gedichte, dreisprachig: Mapudungun – Spanisch – Deutsch
von Elicura Chihuailaf
bei Edition Delta

 

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

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