Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 70: »DER ZWEISPRACHIGE CHILENISCHE MAPUCHE-DICHTER ELICURA CHIHUAILAF SCHREIBT IN DER INDIGENEN MUTTERSPRACHE MAPUDUNGUN UND AUF SPANISCH«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Wir begegneten dem zweisprachigen chilenischen Mapuche-Dichter Elicura Chihuailaf erstmalig beim Internationalen Poesiefestival in Medellín, Kolumbien, das sich um die kontinuierliche Wahrnehmung und Präsenz der neuen indigenen Poesie verdient gemacht hat, hörten dort seine Gedichte, lernten ihn im persönlichen Gespräch kennen und sein poetisches Werkschaffen schätzen.

Elicura Chihuailaf Nahuelpán wurde am 15. Februar 1952 in Quechurehue oder Quechurewe geboren, das zur Stadtgemeinde Cunco in der Provinz Cautín der südchilenischen Region Araukanien gehört. Sein Name ist an sich Poesie, Los und Bürde zugleich: Elicura bedeutet »transparenter Stein«, Chihuailaf »nebelverhangener See« und Nahuelpán »Raubkatze Puma«. Seine Eltern gaben ihm also eine anspruchsvolle innere Aufgabe mit auf seinen Weg, sich durch das Wort, das Selbstgespräch und fortlaufende Gespräch mit den Worten der Vorfahren, dem Erbe der Erinnerung und ihren mythischen Überlieferungen vom Blau, der Mapuche-Farbe, zu klären und transparent zu werden. Der Stein bedeutet das Herz, das geistige Innere, das den Menschen im vergänglichen Haus des Körpers bewohnt wie das Wort und der Traum, die wie Wasser im nebelvergangenen See fließen, um transparent zu werden.

Für den Dichter Elicura Chihuailaf, der heute wieder an seinem Geburtsort Quechurehue lebt, ist hingegen entscheidend, nur eine Stimme im Konzert der Poesie zu sein, die von allen und für alle ist, wenn Kinder, Jugendliche und Erwachsene die Texte hören und lesen, die er auf Mapudungun und Spanisch erzählt und schreibt, so wie er das Buch der Natur zu hören und zu lesen pflegt.

 

Elicura Chihuailaf, der zweisprachige chilenische Mapuche Dichter

 

Zweisprachige Lesung (Mapudungun – Spanisch) von Elicura Chihuailaf beim Internationalen Poesiefestival in Medellín, Kolumbien

 

Er verbrachte seine frühe Kindheit in der ländlichen Geburtsgemeinde Quechurehue, wo er in die indigene Muttersprache Mapudungun hineinwuchs und sowohl in die traditionellen Geschichten der mündlichen Überlieferung (nütram) eintauchte als auch die weisen Ratschläge der Ältesten (ngülam) zu achten lernte. Dies spiegelt sich in seinem Werk wider.

Zu seiner Einschulung zog die Familie in die nahegelegene Stadtgemeinde Cunco, wo er begann, Spanisch zu lernen. Dort besuchte er die Grundschule Atenea, die 2011 ihre neue Schulbibliothek nach ihm benannt hat. Die weiterführende Schulzeit vollbrachte er bis zum Abitur im Lyzeum Pablo Neruda in Temuco. Zu jener Zeit schrieb er seine ersten Erzählungen.

Danach studierte er Medizin und spezialisierte sich in Geburtshilfe an der Medizinischen Fakultät der Universiät von Concepción. Diesen Beruf übte er nie aus, denn seine eigentliche Berufung sollte die Poesie, das Geschichtenerzählen, die Literatur werden.

Seit 1977 veröffentlicht Elicura Chihuailaf zahlreiche Bücher (Erzählungen, Gedichte, Essays und Gespräche). Der vorliegende Titel »Kallfv Pewma mew ka wezapewmamu – De Sueños Azules y contrasueños« (Von Blauen Träumen und Gegenträumen) wurde 1994 vom Consejo Nacional del Libro y la Lectura (Chilenischer Rat für Buch und Lesen) als »bestes unveröffentlichtes literarisches Werk« ausgezeichnet, erschien im Dezember 1995 im Universitätsverlag Editorial Universitaria in Santiago de Chile und wurde seither mehrfach neu aufgelegt. Das Lyrikbuch gehört zu seinen poetischen Hauptwerken, mit denen er weltweit bekannt wurde.

Elicura Chihuailaf nahm an zahlreichen Internationalen Poesiefestivals, Buchmessen und Literaturkongressen in Lateinamerika, den USA und Kanada, Europa und Australien teil. Seine Gedichte sind inzwischen in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt worden, darunter ins Arabische, Baskische, Chinesische, Englische, Estnische, Finnische, Französische, Galicische, Guaraní, Griechische, Italienische, Katalanische, Kreol, Kroatische, Niederländische, Portugiesische, Russische, Schwedische und Ungarische.

Seinerseits übersetzte er Werke von Gabriela Mistral, Pablo Neruda, Víctor Jara und Alonso de Ercilla y Zúñiga aus dem Spanischen ins Mapudungun. Elicura Chihuailaf war Herausgeber der zweisprachigen Mapuche-Kunst- und Literaturzeitschrift »Kallfvpvllv – Espíritu Azul« (Blauer Geist) und arbeitet regelmäßig mit Malern und Musikern zusammen.

 

Elicura Chihuailaf

MACHILUWVN PEWMA

Ñi Pewma kechilewetuy
newen mogeley ka nvlañmakeetew
wvlgiñ tañi pvllv
Ñi kvrvf tvfachi Zugun
ti Kallfv nvnieymaenew ñi vl.

 

INICIACIÓN

Mi Sueño se ha convertido
en la energía que vive y abre
las puertas de mi alma
Su aire estas Palabras
el Azul que su canto sostiene.

Mapudungun y castellano por Elicura Chihuailaf

 

Elicura Chihuailaf

INITIATION

Mein Traum ist Kraft geworden
die lebt und die Türen
meiner Seele öffnet
Sein Wesen, diese Worte
das Blau, das sein Lied trägt.

Ins Deutsche übertragen von Juana & Tobias Burghardt

© Elicura Chihuailaf

 

Die indigene Lyrik hat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute eine neue und naturverbundene Stimme innerhalb der zeitgenössischen Poesie hervorgebracht, wobei auch der zweisprachige guatemaltekische Maya-Dichter Humberto Ak‘abal (1952 – 2019) als grundlegend für diese innovative lateinamerikanische Poesie-Bewegung unvergessen bleibt, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 5, Folge 6, Folge 42, Folge 43 und Folge 68.

Gemeinsam gelten Elicura Chihuailaf und Humberto Ak‘abal als die Begründer und Grundpfeiler der neuen indigenen Poesie Lateinamerikas.

 

"Von blauen Träumen und Gegenträumen" von Elicura Chihuailaf
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

 

 

 

»Kallfv Pewma mew ka wezapewmamu – De Sueños Azules y contrasueños – Von Blauen Träumen und Gegenträumen« von Elicura Chihuailaf bei Edition Delta

 

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

 

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018) und sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See«. 2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.




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