Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 97: »DIPAVALI ODER DIE ›DIWALI-NACHT‹ VON AMANITA SEN«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Wer einmal Diwali / Dipavali erlebt hat, der weiß, dass es ja gefühlt schon emblematisch so etwas historisch Nachfolgendes wie Laternenlauf / Advent / Chanukka / Weihnukka / Weihnachten / Sylvester / Neujahrsfeste / Rosenmontag / Passah- / Hutzelfeuer — und doch so wundervoll anders gestaltet halt, nicht nur wegen der angenehmen Temperaturen — geschmeidig in sich zusammenschließend zu feiern pflegt — oh Lichter in der Nacht, Besinnung, Kerzen und Knaller, Süßigkeiten, auch Lampen und erst die brennenden Dochte in feinen Terrakotta-Schälchen.

Heitere Nächte. Leuchtende Augen. Und das Gute obsiegt. Die Überwindung des Todes. Geburt und Leben. Befreiung. Wahrheit. Segen. Umzug. Ein buntes Familienfestival des Friedens für Groß und Klein. Freudige Omina für das Künftige.

Die uralten Sanskritworte »dīpa« und »āvali« stehen sinngemäß für »Licht in Aneinanderreihung«, ebenso wie »bharata« für das, »was umsorgt / geschützt / erhalten wird«, der alternativ autochthone Landesname »Bharat« für »Indien«.

Die Dichterin Amanita Sen aus der westbengalischen Metropole Kolkata hat über jenes ikonische Lichterfest das folgende englischsprachige Gedicht geschrieben, das sie beim jüngsten »World Thinkers‘ and Writers‘ Peace Meet« dort vortrug.

 

Amanita Sen


DIWALI NIGHT


The beauty of the lights lie so much in their finiteness.
In those few illuminating moments of the fire crackers,
where they burn themselves out, having given it all.
Having lived to the fullest, the life of light,
a Diwali night, defying darkness, smiles graciously to the wee hours of the dawn.

It is the king of the nights, ruling upon the non-diwali ones,
with its celebrated grandeur.
The fire-fly’s short hours keeps alight the dark bush.
The soft Arctic lights fights feebly the harsh winter.

Light’s magic is in its impermanence,
in its wait for yet another candle-lit night,
yet another Diwali.

 

Amanita Sen


DIWALI-NACHT


Die Schönheit der Lichter liegt so sehr in der eigenen Endlichkeit.
In diesen wenigen leuchtenden Momenten der Feuerwerkskörper,
in denen sie sich selbst ausbrennen, nachdem sie alles gegeben haben.
Das Leben in vollen Zügen gelebt zu haben, das Leben des Lichts,
eine Diwali-Nacht, die der Dunkelheit trotzt, lächelt gnädig bis in die Frühdämmerstunden.

Sie ist die Königin der Nächte, die über die Nicht-Diwali-Nächte herrscht,
mit ihrer gefeierten Erhabenheit.
Die kurzen Stunden der Feuerfliege halten den dunklen Busch in Flammen.
Das sanfte Arktis-Licht bekämpft schwach den harschen Winter.

Der Zauber des Lichts liegt in seiner Unbeständigkeit,
in seinem Warten auf noch eine weitere Kerzenlichtnacht,
noch ein weiteres Diwali.


Übersetzt von Juana Burghardt & Tobias Burghardt


© Amanita Sen

 

Veranstalter des jährlichen Literatur- und Friedensfestivals in Kolkata war erneut die Internationale Gesellschaft für Interkulturelle Studien und Forschung (ISISAR), diesmal mit dem Institut für Soziale Dienste Ajoy Kumar Das Seva und in Zusammenarbeit mit der neugegründeten Sister Nivedita University, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 53 und Folge 55.

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert