Lockdown-Lyrik 2.0 / 023: »2020« von Sandra Blume

»Lockdown-Lyrik 2.0! Quarantäne poetisch ausleuchten – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« ist eine Online-Sammlung von Gedichten, die sich mit der Corona-Krise befassen. Es darf uns weiterhin die Sprache nicht verschlagen! In loser Folge erscheinen neue Episoden der nun von Sabine Schiffner, Anton G. Leitner, Alex Dreppec und Fritz Deppert herausgegebenen Anthologie (Dank an Jan-Eike Hornauer für die Mitherausgeberschaft bei Folge 1-154).

 

Sandra Blume

2020

Es war das Jahr, von dem man später sagen sollte,
dass die Wirklichkeit ein neues Gesicht bekam.
Eines, an das man sich nicht zu gewöhnen vermochte,
wie sehr man es auch versuchte.
Beim Blick in die Straßen sah beinahe alles aus wie immer.
Wir lachten und weinten und liebten wie immer.
Und bewegten uns doch täglich angespannter
durch eine anders gewordene Welt.

Wir kannten dieses Gefühl
aus jenen schweren Nachtträumen,
die sich als Traum erst spät entlarven,
weil das Geträumte zunächst vertraut
und wirklich erscheint.
Bis irritierende Fehler auftauchen
im gewohnten Interieur
und ein unbehagliches Gefühl der Bedrohung,
das stetig wächst.

Es waren nicht nur die Masken oder
die Abstandsregeln in der Öffentlichkeit.
Nicht nur die geschlossenen Restaurants und Theater,
die Reiseverbote oder die Angst vor dem Virus selbst.
Es war vielmehr die Angst vor dem, was kommen könnte.
Die Angst vor dem Ende des glücklichen und satten Lebens,
das wir bis dahin geführt hatten.

Es war das Jahr, in dem wir all unsere Hoffnung und Kraft,
allen Glauben und allen Schöpfergeist,
alle Erkenntnisfähigkeit und Vernunft
in die Waagschale zu werfen hatten.

Es war das Jahr, von dem man später sagen sollte,
dass die Wirklichkeit ein neues Gesicht bekam.

 

 

© 2020 Sandra Blume, Marksuhl
(Redaktion: Anton G. Leitner)

 

 

Lockdown Lyrik 2.0. Wir hatten gehofft, dass es zu keinem zweiten Lockdown mehr kommen würde. Aber jetzt ist er angeordnet, der sog. »Wellenbrecher-Lockdown«. Er beginnt in Deutschland ab Montag, den 2. November 2020 – mit der Aussicht auf triste Herbst- und Wintertage. Grund genug für die Redaktion der Jahresschrift DAS GEDICHT, ihre vieldiskutierte Netz-Anthologie zur Corona-Krise vom Frühjahr 2020 wieder hochzufahren. Möge diese Online-Sammlung zur Pandemie uns allen einmal mehr dabei helfen, tief Luft zu holen und möglichst viele Aspekte der weltweiten Katastrophe mit dem Instrumentarium der Lyrik auszuleuchten, damit wir und unsere Leserinnen und Leser mental nicht unter die zweite Welle geraten!

Sabine Schiffner, Alex Dreppec, Fritz Deppert und Anton G. Leitner
 
PS: Alle bereits geposteten Folgen von »Lockdown-Lyrik! Quarantäne querdenken – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« finden Sie hier. In loser, jedoch zügiger Folge wird die Sammlung erweitert.

 

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