Lockdown-Lyrik 2.0 / 170: »Die Strickjacke als Teil einer fälligen Kulturgeschichte der Pandemie« von Anna Real

»Lockdown-Lyrik 2.0! Quarantäne poetisch ausleuchten – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« ist eine Online-Sammlung von Gedichten, die sich mit der Corona-Krise befassen. Es darf uns weiterhin die Sprache nicht verschlagen! In loser Folge erscheinen neue Episoden der nun von Sabine Schiffner, Anton G. Leitner, Alex Dreppec und Fritz Deppert herausgegebenen Anthologie (Dank an Jan-Eike Hornauer, Mitherausgeber Folge 1-154).

 

Anna Real
 

Die Strickjacke als Teil
einer fälligen Kulturgeschichte der Pandemie

Die eine wird warm bussardbraun und bewohnt gewesen sein
tintenblau mit Mottenlöchern aus denen es blinkte wie Sterne
aus dicker Wolle die jedes Wetter aufsaugen konnte
so dünn als habe einer sein Hemd eingefärbt
sandfarben als müsse er sich als Düne tarnen
ausgeleiert wird sie gewesen sein
weil dicke Romane darin gewärmt wurden
blassgrün als sei sie scheu und verletzlich
ausgeblichen wie eingesalzen
samtweich sodass wir unsere Hände
mit ihrer Sehnsucht ertappten
viel zu klein weil einer aus der Gegenwart platzte
so fadenscheinig dass selbst das Adjektiv
schon zu dicht erscheint
feuerwehrrot beschert sie uns grüne Jacken ins Auge
verfilzt als hätte sie in der Sauna geschwitzt
so rosa als wären wir alle gehäutet
schlammfarben als träumte einer davon
mit Lehm auf Brückenpfeiler zu zielen
so grobmaschig man konnte uns aus der Menge fischen
hochgeschlossen damit uns das Nicken vergeht
ausgebeult als schleppte einer sich selbst aus der Schlacht
mit Brandlöchern weil er partout
auf dem Weg durch die Aschenkästen bestand
so verschlissen dass selbst das Verb sich verflüchtigte
wird schließlich Gerücht gewesen sein
Flusen Staub nicht mehr nachweisbar
Einzelne Fasern in Vogelnestern entdeckt
und war doch ein warmes Gewicht auf jemandes Schoß
Notwendigkeit und Liebe Trotz und Trost
einfach verstrickt
stets von Hand zu waschen und liegend zu trocknen

 

© 2021 Anna Real, Essen
(Redaktion: Alex Dreppec)

 

 

Lockdown Lyrik 2.0. Wir hatten gehofft, dass es zu keinem zweiten Lockdown mehr kommen würde. Aber jetzt ist er angeordnet, der sog. »Wellenbrecher-Lockdown«. Er beginnt in Deutschland ab Montag, den 2. November 2020 – mit der Aussicht auf triste Herbst- und Wintertage. Grund genug für die Redaktion der Jahresschrift DAS GEDICHT, ihre vieldiskutierte Netz-Anthologie zur Corona-Krise vom Frühjahr 2020 wieder hochzufahren. Möge diese Online-Sammlung zur Pandemie uns allen einmal mehr dabei helfen, tief Luft zu holen und möglichst viele Aspekte der weltweiten Katastrophe mit dem Instrumentarium der Lyrik auszuleuchten, damit wir und unsere Leserinnen und Leser mental nicht unter die zweite Welle geraten!

Sabine Schiffner, Alex Dreppec, Fritz Deppert und Anton G. Leitner
 
PS: Alle bereits geposteten Folgen von »Lockdown-Lyrik! Quarantäne querdenken – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« finden Sie hier. In loser, jedoch zügiger Folge wird die Sammlung erweitert.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert