Melanie am Letzten – Folge 9: Die moderne Esskultur

Es ist ein Wahnsinn, ein Irrsinn und nicht selten ein Blödsinn: So geht es zu im Tollhaus Welt. Der Mensch neigt zu seltsamen Verhaltensweisen, die schockieren, alarmieren oder amüsieren können. Was hilft zu guter Letzt? Die Poesie. Nicht ärgern, stänkern oder meckern, sondern dichten – meint die schwarzhumorige Poetin Melanie Arzenheimer und kommentiert die Deadlines des Lebens jeweils am Monatsende auf DAS GEDICHT blog.

 

Ob sich der Mensch im Laufe der Jahrtausende wirklich verändert oder gar verbessert hat, ist fraglich. Was sich aber verändert hat, ist die Art der Nahrungsaufnahme. In Urzeiten ging es hauptsächlich darum, durch die Nahrungszufuhr den täglichen Kalorienbedarf zu decken und damit am Leben zu bleiben. Wer schwächelte, wurde schnell zur Nahrung für andere und landete auf dem Speiseplan von hungrigen Säbelzahntigern. Der Höhlenbewohner von einst ging deshalb auf die Jagd und freute sich, wenn er zusammen mit seinen Kumpels ein fettes Mammut erlegen konnte.

Glücklicherweise kam irgendwann einer auf die Idee, Feuer zu machen. Ab sofort wurde gegrillt, gebraten, gekocht. Das war irgendwann nicht mehr schick genug. So ließen römische Kaiser Pfeffer importieren, Eis aus den Gletschern der Alpen zur Kühlung des Weins heranschaffen und die Tischsitten wurden so kompliziert, dass sie einer Doktorarbeit glichen. Servietten, verschiedene Arten Besteck, Teller, Gläser und Dinge wie eine Sauciere verkomplizierten die Nahrungsaufnahme in wohlhabenden Kreisen einige Jahrhunderte später zusätzlich. Grillen, kochen, braten reichte nicht mehr. Es wurde ab sofort blanchiert, tranchiert und degustiert. Schließlich wurde das Angebot an Speisen derart üppig, dass es nicht mehr um Kalorienzufuhr, sondern eher um deren Abfuhr ging, um nicht an Diabetes oder Fettleibigkeit zu sterben. Der Säbelzahntiger würde sich jetzt schlapp lachen, wenn er nicht ausgestorben wäre.

Im 21. Jahrhundert geht der Trend daher zur Übersichtlichkeit, Natürlichkeit, alles Aloe, durchaus vegan und vor allem molekular. Klar? Es gibt ihn zwar auch den – nennen wir ihn Dosentyp­ –, der nach dem Motto »aufmachen, aufwärmen, aufessen« verfährt. Aber: wer etwas auf sich hält, geht zum hippen Sternekoch und begeistert sich für moderne Esskultur. Und wenn es gemundet hat, dann heißt es, dieses Gericht sei ein Gedicht. Na Prost, Mahlzeit.
 

Im Sterne-­Restaurant

Der Gruß aus der Küche
theatralisch inszeniert
eine geviertelte Erbse
im Wasabi-­Mantel
danach die Parodie
eines Schweinebratens
und als Dessert
heiße Luft mit Heidelbeeraroma

Alter Schaumschläger denke ich
und beleidigte Leberwurst
der Chefkoch redet Kaiserschmarrn
und gibt mir die Quittung
wiederkommen bräuchte ich nicht

Wie er mir aus der Seele spricht

 
© Melanie Arzenheimer, Eichstätt

 

Melanie Arzenheimer. Foto: Volker Derlath
Melanie Arzenheimer. Foto: Volker Derlath
»Melanie am Letzten« wird Ihnen von Melanie Arzenheimer präsentiert. Sie wurde 1972 in Eichstätt / Bayern geboren, wo sie heute noch wohnt. Melanie Arzenheimer arbeitet als Chefredakteurin bei der espresso Mediengruppe Ingolstadt, sowie als freiberufliche Hörfunkmoderatorin.
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Alle bereits erschienenen Folgen von »Melanie am Letzten« finden Sie hier.

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