Dass sich heuer der Fall der Berliner Mauer zum 30. Mal jährt, dieses wunderbare Jubiläum war Anlass für Melanie Arzenheimer und Anton G. Leitner, ihre gemeinsam herausgegebene DAS GEDICHT-Nummer dem Thema »Wende« zu widmen. Erschienen ist sie Ende 2018, und so konnte und kann sie für Lesungen und dergleichen das ganze Jubiläumsjahr hindurch hervorragend verwendet werden.
Das große »Wende«-Potenzial
Sie enthält dabei letztlich viel mehr, ist thematisch viel breiter aufgestellt, als ursprünglich angedacht. Das Thema »Wende« ist durch das friedliche deutsch-deutsche Groß-Ereignis und dessen anstehendes Jubiläum aufgekommen, doch bald haben die Herausgeber gemerkt, wie viel weiteres Potenzial das Thema »Wende« noch beinhaltet – und haben das Thema entsprechend geöffnet und dann erst ihre Ausschreibung an die Dichterinnen und Dichter gesandt.
Nun geht es in der Jahresschriften-Ausgabe um Dreh- und Kipp-Punkte in allen Bereichen, etwa auch im weiteren poltischen, doch ebenso im privaten Segment und im Sprachspielerischen. Darüber hinaus gibt’s einen von Uwe-Michael Gutzschhahn kuratierten Kinderlyrik-Teil zum weit interpretierten Wende-Thema. Für Abwechslung und Offenheit ist also wahrlich gesorgt!
Vielfalt an Perspektiven und Tonlagen
Hinzu kommt freilich die erfreuliche und inspirierende Vielfalt an Perspektiven, Tonlagen und stilistischen Mitteln, die all die unterschiedlichen Autoren, wie sie auch in DAS GEDICHT 26 wieder versammelt sind, der Leserin und dem Leser feilbieten.
Zum heutigen Tag der Deutschen Einheit haben wir in der Blog-Redaktion aus den Mauerfall- und Wiedervereinigungs-Gedichten, die in der aktuellen Zeitschriften-Ausgabe enthalten sind, eine kleine Auswahl zusammengestellt. Viel Vergnügen, liebe Leserinnen und Leser, mit unserer Feiertags-Anthologie!
Und direkt zum vollständigen »Wende«-DAS GEDICHT geht’s hier: https://aglv.com/DAS-GEDICHT-Bd-26
(jeh)
Andreas Noga
Freundliche Übernahme
Die Revolution hat ihr Land gefressen
und das Volk losgelassen:
Als die Mauer plötzlich durchsichtig war,
lief es wie von selbst
über.
Halb ging es um Freiheit, halb um Waren
und was sonst noch versprochen wurde
vom Blühen. Es ging ein Frühling durch die Köpfe,
auf dem man bauen konnte.
Die Menschen hin-
und her-
und mitgerissen.
© Andreas Noga, Alsbach (Westerwald)
Walter Flemmer
Angekommen in der Mitte des Wegs, nicht zufällig,
sondern in den Sattel gehoben von der Erfahrung
der geteilten Stadt und ihrer fremden Bewohner.
Aufgewacht in der Mitte, die auch mein Land wieder
geöffnet in den Aufgang des Tors in Berlin, als hundert
Fernsehschirme, getürmt in das Tor, die Großprojektion
aus Geschichtssplittern riesig zusammenführten
vor das Rockkonzert-Festvolk, das zur Erinnerung tanzte,
als ich glaubte: Wieder hab ich ein Vater- und Mutterland.
Aber der Hurra-Schrei der Massen wuchs mir
wie ein Schurschnitt über die Kopfhaut, denn sind hier
Stiefel auf Stiefel auf das Pflaster geknallt,
und haben nicht Tausend und Tausend Beifall gebrüllt?
Sind nicht alle Schreie manipulierbar, und die Hände,
in die Höhe geworfen, bejubelten immer
verordnetes Unrecht. Was war wirklich gewendet?
Kann mir mein Vaterland wieder Heimat werden,
oder ist sein abgründiges Antlitz für immer verdunkelt?
Jetzt frag ich die löchrige Zeit: Wer hat die Wende beendet?
© Walter Flemmer, Unterschleißheim-Hollern
Christian Engelken
Epitaph für die DDR
Vierzig werdend sprachst du noch von Dauer,
Doch es lag bereits was in der Luft
Und der Tod schon auf der Lauer:
Plötzlich fiel die Mauer
Und schon stiegst du in die Gruft!
Überschaubar blieb die Trauer.
© Christian Engelken, Hannover
Georg Maria Roers SJ
Zeitenwende in Berlin
Vor Jahren hättest du
dir nicht vorstellen können
deine Heimat zu verlassen
wo jeder dich grüßte und kannte
du hast mich damals beschimpft
als ich aus der Verbannung kam
Straßenfluchten verengten sich
in deinen angstweiten Augenlichtern
die Gassen der Großstadt malten
schwarze Panik auf deine Lider
heute lässt du dir ganz gerne
den Ostwind um die Ohren pfeifen
auf dem schicken Todesstreifen.
© Georg Maria Roers SJ, Berlin
Klára Hůrková
Ankunft
Die Zugfahrt war lang
Doch erst die Neonlichter
an der belgischen Autobahn
machten die Änderung sichtbar
Böhmerwald Prag Frankfurt am Main
Bonn Aachen Lichtenbusch Lüttich
In Brüssel (Le Petit Château)
Fingerabdrücke abgegeben
für das wertvollste Stück Papier
Danach zum ersten Mal
gekochte Muscheln gegessen
den gefallenen Engel
in der Kathedrale
von Lüttich besucht
über die Maas geschaut
in alle Richtungen
© Klára Hůrková, Aachen
Jan-Eike Hornauer
Logische Forderung
Die Mauer
ist niedergerissen
Lasst uns
Zäune errichten!
Das ist
doch vernünftig
schon von
den Kosten her
und auch die Optik
gewinnt
Leichtigkeit
und Transparenz
bei voller
Wirkung
so geht
modernes Bauen
© Jan-Eike Hornauer, München