Neugelesen – Folge 17: Yoko Tawada »Ein Balkonplatz für flüchtige Abende«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Sage und schreibe bis zur 13. Klasse dachte ich doch wahrhaftig, es gäbe ein Rückrad. Ich stellte mir vor, wie so ein Rückrad wohl aussehen mochte: Vielleicht war es ein Rad, das man auf dem Rücken trug, lange vor meiner Zeit, bis es durch einen Rucksack ersetzt wurde; wie eine Kraxe. Wem dieses Rückrad fehlte, der war weit weniger belastbar, konnte viel weniger tragen. Oder ich dachte an okkultes Vokabular und daran, wie ein germanischer Stamm aus der Wirbelsäule eines geopferten Menschen ein Rad als Zeichen des ewigen Lebens fertigte. Und jener, dem die Wirbelsäule, die zum Rad geworden war, fehlte, lag nur noch schlaff auf dem Boden; antriebslos.

Schließlich erfuhr ich, dass es das Rückrad gar nicht gibt. Ein Affront! Ich war immerhin um die zwanzig Jahre, da wusste man schon alles! Sogleich schlug ich in mehreren gedruckten Quellen und im Internet nach: Rückgrat, überall nur Rückgrat. Wie konnte das sein? Es ist doch der Grat eines Berges, hingegen das Rückgrat und das Rad. Ich war ratlos.

Etwas ähnliches war mir schon einmal als Kind widerfahren. Da ich meine ersten Milchzähne überdurchschnittlich früh begonnen hatte zu verlieren, sagte eine Freundin meiner Mutter zu mir, so verstand ich es zumindest, ich sei Frühreis. Ich habe mich mächtig gefreut: Ich bin Frühreis! Ich kann früher geerntet werden als der handelsübliche Reis und schmecke trotzdem ganz vorzüglich, bin gar eine Delikatesse! Als ich dann einem Erwachsenen erzählte, ich sei Frühreis, begann er zu lachen und desillusionierte mich: wohl eher frühreif. Mein schönes Bild war dahin und die Scham überwältigend groß.

Solche falschen Überzeugungen gibt es nicht wenige: der grüne Veltliner, der nichts mit der Biermarke Veltins zu tun hat, ist beispielsweise eine weitere. Im Alltag können wir solche sprachlichen Unzulänglichkeiten kaum zugeben. Zu peinlich. Und doch haben diese sprachlichen Abweichungen oftmals auch etwas Schönes, etwas Bildhaftes und ganz Originelles und Persönliches. Meist muss man auf diese ganz speziellen Fälle des Irrtums von jemand anderem aufmerksam gemacht werden. Und dies wiederum ist leider meist peinlich. Schließlich war man von eigentlich offenkundigem Unfug fest davon überzeugt – und hat sich vielleicht sogar an den entstandenen Bildern erfreut, so wie ich.

Die Autorin Yoko Tawada dreht den Spieß um: Ihre Muttersprache ist Japanisch, doch schon seit den Achtzigern schreibt sie auch auf Deutsch. Ihre besondere Gabe ist es, die häufig genug seltsam ausgetretenen Wegen ihrer Zweitsprache zu verlassen und vom Wegesrand oder einem Balkonplatz aus auf die Irrungen und Wirrungen aufmerksam zu machen. Ja, auch sie zu feiern und zuweilen die Wegesränder zu verwischen. »Ich muss mal. / Was muss er? / Müssen ist ein Hilfsverb, dem kein Verb zu helfen weiß.«

In vierzehn Großstadtepisoden beschreibt sie polyphon Flüchtigkeiten, die in ihrer Sprachkunst an Bedeutung und Vielschichtigkeit gewinnen. Was sich zunächst sehr assoziativ liest, stellt sich als genau komponiert heraus. Die Zuwortkommenden fließen ineinander, und zwischen den ganzen Dissonanzen wird eine sinnliche Harmonie hörbar. Immer wieder muss man aufhorchen und sich selbst seiner eigenen Sprache vergewissern – die sich aber im Balkonplatz für flüchtige Abende nie auflöst, sondern neu vernetzt. Unter all den Sprachspielerinnen und Sprachspielern gehört sie zur Speerspitze gegen das Eingeschliffene, unaufdringlich, aber eindrücklich. Mit weniger Humor als ein Karl Valentin und weniger Schwermut als ein Arno Schmidt oder Paul Celan. Eine sanfte Prise mit erhabenem Duft, die einem aber in stürmischeren Momenten auch schon mal den Hut vom spitzen Kopf pusten kann. Insgesamt ein ewiges Dazwischen, wie es einer mehrsprachigen Autorin würdig ist.

Lediglich auf den ersten Blick scheint manches in den Klamauk abzurutschen: »Daune? Johanna ist keine leichte Daune, / sondern eine hitzige, sprunghafte Kugel!« Und die allgemein bei ihr vorherrschende Leichtfüßigkeit täuscht schnell über die Tiefe hinweg, die man nicht übersehen sollte. Etwa wenn sie über mehrere Verse hinweg der Zahl 69 hinsichtlich ihres Schillerns zwischen erotischer Symbolik und Statistik auf den Grund geht. Sie schließt mit der Feststellung, dass 69 Prozent der Bevölkerung gerne an den Zehen ihres Partners knabbern: »Demo- / graphisch gesehen ist es eine Zeit- / vergeudung.« Kritisch anzumerken bleibt am Ende: Ganz besonders entfaltet dieses Buch seine Wirkung, wenn die Autorin selbst daraus liest. Das fehlt bei der stillen Lektüre natürlich ständig.

 

 

 

 

 

 

 

 

Yoko Tawada
Ein Balkonplatz für flüchtige Abende
konkursbuch Verlag Claudia Gehrke
Softcover, 130 Seiten
ISBN: 978-3-88769-555-2

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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