Neugelesen – Folge 27: Gerhard Ruiss »Blech«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

In dem Roman Ein sterbender Mann von Martin Walser wird der Dichter Carlos Kroll mit einem Preis des Münchner Lyrik Kabinetts ausgezeichnet. Das Publikum ist exklusiv, die Stimmung ist festlich, der Laudator, ein Literaturprofessor der Ludwig-Maximilians-Universität, ein echter Kenner seiner Lyrik. Der Dichter bedankt sich nach dessen Rede mit der kurzen Wendung, er wüsste, warum er nicht verstanden werden wollte, doch der Laudator habe das widerlegt. In dem Kapitel wird die Notwendigkeit von Preisen für die Literaturszene mit Dichter- und Literaturbetrieb-Klischees ironisch verwoben.
Der Autor Gerhard Ruiss, dessen neuester Band Blech jüngst in der Edition Art Science erschien, erhielt vor wenigen Tagen die Nachricht, dass er der diesjährige Preisträger des H.C. Artmann-Preises der Stadt Wien sein wird. Die Geschichte seiner Preisverleihung muss jedoch erst noch geschrieben werden. Sie findet am 6. November 2020 um 18:00 Uhr im Kabinetttheater Wien statt.

Ich wäre allerdings kein passender Laudator für diesen Anlass. Ich bin ein Neueinsteiger in die Lyrik von Ruiss und werde mich erst einmal ganz dem Blech widmen. Wie vielschichtig allein dieser Titel ist, der auf den ersten Blick kaum eines Preises würdig wäre – oder fällt einem spontan ein preiswürdiges Blech ein? – hat mir erst dieser Band vor Augen geführt. Eine Situation, die – ein Glück! – häufig so in der Lyrik stattfindet. Denn „Blech ist viel, das nicht aus Blech ist, und viel, das aus Blech ist, sieht nicht danach aus.“ Im Gegensatz zu Ruiss stehen etwa „‘Blecherne‘ Vierte […] weder auf Podesten noch erhält als Vierter jemand tatsächlich eine Medaille“, so der Verlag. Diese Einstimmung hat mir gleich Lust bereitet, die Gedichte auf ihren blechernen Charakter abzuklopfen und die Dimensionen von tatsächlichem und metaphorischem Blech neu zu entdecken.

Bei dem Gedicht jedes blech, welches auch auf dem Buchrücken zu finden ist, gelingt dies beispielsweise vorbildlich. Es zeigt einen großen Wortreichtum mit starkem Hang zum Spiel: „keksdosenblechbilderbuchbildlich“, „medaillenblechpachtpech“ oder „proviantdosenblechluftlöchrig“. Insgesamt ist der mit 187 Seiten sehr starke Band aber kein Konzeptband im engeren Sinne; bedeutet: nicht alles dreht sich direkt oder indirekt ums Blech, lässt sich aber mit vielen Aspekten des Blechs in Verbindung setzen. Da wäre etwa der Formenreichtum und die Eintönigkeit; die Alltäglichkeit und Nicht-Alltäglichkeit des Besonderen und jederzeit Greifbaren; die glänzende Oberfläche und die unglamourösen Elementarteilchen. Darüber hinaus suchen viele Gedichte die eigene Sprache als Ereignis auf. Es werden Worte umhergewälzt, Sprache aufgelöst und erneut zusammengesetzt zu etwas Ungewohntem, Seltengesehenem. Etwas, für das ich besondere Vorliebe habe: tanzender Perspektivreichtum. Tanzend? Rhythmus und Klang spielen eine ganz entscheidende Rolle. So manches Gedicht gleitet dadurch in das Spektrum der Konkreten Poesie. Man findet im Blech keine großen Fragen in umschlungenen Verslabyrinthen, sondern die kleinen Dinge, welche keiner großen Worte bedürfen, um sich ihrer Bedeutung sicher zu sein: „glücklich, wer über einen baumstrunk herrschen kann“, so zu lesen in Auf Wanderwegen. Anton G. Leitner bestätigt ihm deswegen den Rang eines Realpoets reinsten Wassers, dem ich völlig zustimme. Der Band ist Grund genug zum „Juhusprecher“ zu werden.

All das im Hinterkopf, lässt sich festhalten, dass Gerhard Ruiss dadurch der goldrichtige Preisträger des H.C. Artmann Preises ist, und es bleibt zu wünschen, dass das Blech in viele Haushalte Einzug hält und einiges vom Glanz des Preises an dem Buch anhaften bleibt. Das ganze Team von DasGedichtBlog gratuliert ihm sehr herzlich zu dieser Auszeichnung, die eine wichtige Linie von Lyrikerinnen und Lyrikern zieht, zu der nun auch ganz offiziell Gerhard Ruiss gehört. Ich persönlich wünsche ihm dazu noch einen Laudator, der ihn richtig (miss-)versteht.

 

"Blech" von Gerhard Ruiss
Buchcover-Abbildung (Edition Art Science)

 

 

 

 

 

 

 

Gerhard Ruiss
Blech
Edition Art Science, 2020
Softcover, 187 Seiten
ISBN: 978-3-903335-02-8
15 Euro

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert