Neugelesen – Folge 44: »M‘ironien« von Miron Białoszewski

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Miron Białoszewski: M‘ironien

Miron Białoszewski (1922-1983) war ein polnischer Dichter. Möchte man Wikipedia Glauben schenken, dann gehört er zu den Klassikern der polnischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Wer das bestimmt, ist ja immer so eine Frage, aber – wie so häufig und zu meinem Leid – hatte ich von diesem Schriftsteller aus unserem Nachbarland noch nichts gehört, bis ich dieses wunderbare roughbook 054 aus aktuellem Jahr in der Hand gehalten habe. Das Label roughbook kommt aus dem Hause Engeler Verlag und lässt den Leser und die Leserin sich immer so fantastisch verwegen während persönlicher Neuentdeckungen fühlen. Einfaches, quadratisches Format, Digitaldruck, krumm gesetzter Text auf weißem Hintergrund als Cover. Wie eine Guerilla-Presse aus der Garage. Ob das das richtige Format für Neuübersetzungen von einem vermeintlichen polnischen Klassiker ist? Möchte ich nicht beurteilen, aber mich hat er zum richtigen Moment getroffen und liest man Teile seiner Biographie, ist man verleitet anzunehmen, dass der Urheber damit sehr zufrieden gewesen sein könnte. Vom Staat gerade so toleriert, gelang er zu einigem Ruhm wegen experimenteller Theaterstücke in einer Warschauer Privatwohnung. Das passt gut.

Aber was ist eigentlich ein Schnäni? Werden wir kurz sakral: Die Schrift ist etwas Heiliges. Sie steht am Beginn jeder Religion, wie auch das Lesen. Das heilige Buch hat noch immer die Aura des Originals, das Vorlesen eine religiöse Praxis. Hingegen: „Alles hat beim Sprechen angefangen, und nicht beim Schreiben“, so Białoszewski in seinem mitabgedruckten, poetologischen Text. Und so ward der Schnäni im Zusammenhang von Miron Białoszewskis sogenannter linguistischer Poesie geboren. Ein Klangereignis, dass er als Verb, Adjektiv und Substantiv durchknetet und ihm zu einem poetischen Ereignis auf die Welt hilft. Man merkt es vom ersten Gedicht an: Hier wurde mit der Absicht notiert, vorgetragen zu werden. Manches ging mir ins Ohr wie ein Drama, und schlug mir ins Gesicht, wie das erspürte Selbstporträt: „Sie schauen mich an / also habe ich wohl ein Gesicht. // Von allen bekannten Gesichtern / erinnere ich mich am wenigsten an das eigene.“ Und die Tragik liegt wie so häufig darin, dass ich gerade keine Möglichkeit habe, das Polnische in dieser zweisprachigen Ausgabe zu hören. Ich halte es trotzdem für wichtig und anerkennend, dass die polnischen Originale dabei sind. Durch Miron Białoszewskis stellenweise experimentellen Charakter, sein philosophisches Feingefühl und seine eigentümliche Komik geht das Konzept mit einem roughbook sehr gut auf. Geboren für den Untergrund, wie es scheint.

 

"M'ironien" von Miron Białoszewski
Buchcover-Abbildung (Verlag roughbook)

 

 

Białoszewski, Miron: M‘ironien
Übersetzungen aus dem Polnischen von Dagmara Kraus
roughbook, Strasbourg 2022
238 Seiten, Softcover
ISBN: 978-3-90650-46-1

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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