Neugelesen – Folge 46: »Der verpasste Moment« von Yordanka Beleva

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Yordanka Beleva: Der verpasste Moment

Es ist kalt geworden in Europa. Madrid 10°C, Normandie -5°C, München -2°C, Kyiv -3°C. Die meisten haben Heizungen, hingegen nicht alle. Es sind diese Momente, in denen man sich wünschen würde, dass Yordanka Belevas selbst gestaltetes Titelbild größere Wirklichkeit zukommt. Dort fallen die Anführungszeichen vom Himmel auf die Erde wie Fliegerbomben. Die sinnbefreiten Satzzeichen gelangen zu neuer Bedeutung durch ihre Anordnung im Bild. Sprechen sie von der Zerstörungskraft der Worte oder vom Wunsch, dem Krieg etwas entgegenzuhalten? Klar ist, dass es viele verpasste Momente im winterlichen Europa geben wird und die eisige Kälte letzte Atemzüge gefrieren lässt.

Diese Sprache sprechen die Gedichte aus Yordanka Belevas Band Der verpasste Moment, übersetzt aus dem Bulgarischen und erschienen im eta Verlag, ohne ein Antikriegsbuch sein zu wollen. Das liegt insbesondere an den Metaphern, die sie erschafft, um dem Dazwischen des verpassten Moments Worte zu verleihen. Verlassene Worte. Worte im Drinnen und Worte im Draußen. Magere Gedichte, höchst überlebensfähig, aber ihrer Vergänglichkeit sehr bewusst. Das macht sie stark und großartig. Gleichzeitig halten sie sich fern von Sprachexperimenten und allzu großer Artistik. Sie setzen auf gezielte Stilsicherheit ohne enge Regeln. Die bulgarischen Gedichte gehen in diesem Band eine sehr gelungene Symbiose mit ihren Übersetzungen und den Zeichnungen von Beleva, die hier nicht nur eine Nebenrolle spielen, ein. Auch hier kein starres Nach- oder Nebeneinander. Das verleiht dem Buch Seite um Seite viel Freiheit. Ich blicke demütig auf diesen Band und bin in melancholischer Freude darüber, dass ich Momente mit dieser Poesie haben durfte.

 

"Der verpasste Moment" von Yordanka Beleva
Buchcover-Abbildung (eta Verlag)

 

 

 

 

Beleva, Yordanka: Der verpasste Moment
Aus dem Bulgarischen von Henrike Schmidt und Silviya Vasileva
eta Verlag Berlin, 2021
88 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3-949249-05-1

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert