Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).
Etel Adnan: Zeit
Im Kunstbau des Lenbachhauses in München findet derzeit noch die Ausstellung von Etel Adnans Kunst statt. Der Kunstbau war einst nichts weiter als ein ungenutzter Leerraum als Folge des U-Bahnbaus. Ein geradezu nicht-existenter Ort. Die Bilder von Etel Adnan sind schlichte Bilder mit großen Farblandschaften und geben diesem bunkerartigen Raum Organe. Sie ziehen an mit ihrer ruhigen Kraft. Darüber hinaus ist der unbetitelte Sonnenuntergang in Oker und Pink auf allen Litfaßsäulen in München zu finden. Irgendetwas strahlen sie aus. Mir war die Künstlerin vorher unbekannt, aber das Werbeplakat hat funktioniert!
Nachdem man hinunter in das erste Zwischengeschoss der U-Bahn gegangen, und durch den Eingang des Leerraums gegangen ist, läuft man eine lange Rampe mitten hinein. Zur Linken beginnt die Ausstellung nicht mit ihren Bildern von Sonnenuntergängen, Landschaften und Bergszenerien. Sie beginnt mit kalligraphierten Gedichten. Ich war sofort fasziniert davon. Nicht allzu häufig begegnet man ausgestalteter Poesie jenseits von konkreter Poesie. Die meisten Gedichte sind auf Leporellos, also in Faltbüchern verfasst. Tusche, Tinte, Wasserfarben, exzentrische Schriftzeichen.
Ebenso ein Leporello ziert auch die Vorderseite ihres Gedichtbandes Zeit, in Deutschland in ihrem Sterbejahr 2021 in der Edition Nautilus erschienen. Ich war enttäuscht. So suchend ich ihre Dichtung bis dahin wahrgenommen habe, so abgedroschen erklang das Wort Zeit zwischen meinen Ohren. Vielleicht habe ich mich einfach schon selbst zu oft mit Zeit beschäftigt und jedes Mal stand ich vor derselben Erkenntnis: ein zu großes Wort. Andererseits: kann sich nicht gerade Poesie mit großen Worten spielerisch balgen? Und geht nicht die Lyrik ein besonderes Verhältnis zur Zeitlichkeit mit ihrer Kürze ein?
Das tut sie auch bei Etel Adnan. Motive der Dauer werden häufig mit Motiven des Endens verknüpft. Überhaupt sprechen viele Gegensätze zur Leserin und zum Leser, die ganz unverhohlen Schlag auf Schlag, also Vers auf Vers folgen. Es ist spürbar, dass Adnan auch als Philosophin bekannt ist. Spürbar? Geht es bei Philosophie nicht um Wahrheit? Eine umstrittene Frage. Wer sich Zeit nimmt, kann sich nach Antworten auf diese Frage auf die Suche begeben. Vielleicht finden wir Einigkeit darin, dass Denken mehr ist als Logik. Denn in den Sprachbildern von Adnan finden sich auch „versiegelte Obskuritäten des Gehirns“. Nicht alles in dem Band ist „poetische und philosophische Reflexion auf mitunter schwindelerregendem Niveau“, wie es die Übersetzerin konstatiert. Aber doch sind die freien Verse und Formen, wie auch die schwungvollen Gegensätze und Überraschungen kurzatmige Einladungen dazu.
Adnan, Etel: Zeit
Aus dem Englischen von Klaudia Ruschkowski
Edition Nautilus Hamburg, 2021
142 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3-96054-244-5
David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
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