Neugelesen – Folge 52: »Ich bin am Leben« von Yirgalem Fisseha Mebrahtu

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Yirgalem Fisseha Mebrahtu: Ich bin am Leben

Der Autor ist tot. Eine populäre These aus der Literaturwissenschaft, der ich mich selbst oft verpflichte. Im Kern geht es bei dieser These um die Annahme, dass Texte, nachdem sie in die Welt gesetzt wurden, ihr eigenes Leben führen, unabhängig von der Existenz und den Intentionen der Autorinnen und Autoren. Für mich ergibt das einen Sinn. Denn als Leser habe ich sowieso keinen Zugriff auf die Intentionen der UrheberInnen, ebenso wie DichterInnen unmöglich alle Unschärfen und Lesarten intendieren können. Gleichzeitig könnten DichterInnen ganz andere Intentionen haben, als im Werk verwirklicht. Denn wer schreibt schon absichtlich ein langweiliges Gedicht. Doch dann gibt es AutorInnen wie Yirgalem Fisseha Mebrahtu. Ihre Gedichte sind für mich so eng an ihre Biographie geknüpft, dass ich mir kaum vorstellen kann, ihre Verse zu mir durchdringen zu lassen, ohne Teile ihrer Biographie zu kennen. Denn wie knapp sie überlebt hat und wie entscheidend dafür ihre Dichtung war, lässt sich nur erahnen.

Mebrahtu ist 1981 in Eritrea geboren. Dort arbeitete sie als Schriftstellerin und Journalistin, bis sie 2009 festgenommen wurde. Es folgten sechs Jahre Haft und Folter, keine Anklageschrift, kein Verfahren. Vorgeworfen wurde ihr ein geplantes Attentat auf den Präsidenten und Herabwürdigung von Politikern. Ohne etwas davon überprüfen zu können, liegt es nahe, dass nichts davon stimmt. Vielmehr war sie als unabhängig agierende Journalistin und kritischer Geist der Politik ein Dorn im Auge. Nach ihrer Entlassung aus der Inhaftierung gelang ihr die Flucht nach Uganda. Heute lebt sie mit der Unterstützung des PEN-Zentrums Deutschland im Exil in München.

Viele ihrer Gedichte schrieb sie in Gefangenschaft und mit jeder Zeile, die ich lese, fährt mir ihr Schrecken durch meine Beine. Sie schreibt auf Tigre, eine Sprache, die in Deutschland vermutlich nur wenige sprechen oder lesen können. Trotzdem hat der Verlag Wunderhorn sich entschieden, den Übersetzungen die Originale daneben zu stellen. Eine Entscheidung, die ich für sehr wertschätzend gegenüber der Geschichte der Autorin halte. Auf Tigre schreibt sich der Name ihres Gedichtbandes ኣለኹ, was übersetzt Ich bin am Leben heißt. Jeder, der heute ihre Gedichte – oder diese Kolumne – liest, ist am Leben; doch Mebrahtus Gedichte zeigen, wie kraftvoll diese Phrase gemeint sein kann. „Die Enge // Meine Zelle so groß wie ich. / der Boden mein Bett.“ Wie lange lässt sich das überleben? Hier macht sich eine Sehnsucht nach Freiheit Luft. Das mag pathetisch klingen, jedoch nur, weil wir im Warmen sitzen. Einige ihrer Gedichte sind fabelhaft und lassen andere Wesen als Menschen zu Wort kommen. Es wirkt wie eine Flucht vor dem Menschen, über dessen Abgründe sie tiefes Verständnis erlangt hat. Die Tiere werden zum Entwurf eines anderen Daseins. Wie etwa die Geschichte zweier alter Freunde, des Pferdes und des Ochsen. Sie stehen füreinander ein: „Und derlei kommt niemals vor, / so mussten schon Tausende / ihr Leben lassen.“ Eine bittere Wahrheit und ein Lehrstück über Barmherzigkeit. Ebenso können ihre Gedichte politisch sein. In Ciham richtet sie ihr Wort an Ciham Ali Abdu. Sie wurde aus politischen Gründen 2012 festgenommen und niemand hat Informationen über ihren Verbleib.

Nüchtern sind Mebrahtus Gedichte hingegen nie. Sie sind stets leidenschaftlich und begehen das Feld dieses Begriffs weitläufig. Das ist vermutlich nicht das, was die meisten Menschen während der Sommerpause lesen wollen. An erster Stelle steht für viele berechtigterweise die Erholung. Doch während Politik und Journalismus gerade stillhalten, geht das Grauen für viele andere weiter. So ist es auch nicht überraschend, dass Mebrahtu auf der Shortlist für den Disturbing the Peace Award stand. Es ist wichtig, dass Dichterinnen den scheinbaren Frieden stören. Und es ist wichtig, dass der Wunderhorn Verlag diese Gedichte übersetzt und herausgegeben hat, damit wir das Schicksal von Mebrahtu und anderen Leidensgenossinnen und Genossen besser nachvollziehen können.

 

"Ich bin am Leben" von Yirgalem Fisseha Mebrahtu
Buchcover-Abbildung (Verlag Wunderhorn, Edition Afrika Wunderhorn)

 

 

 

 

Mebrahtu, Yirgalem Fisseha: Ich bin am Leben
Übersetzt von Mekonne Mesghena, Kokob Semere u.a.
AfrikaWunderhorn
99 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3-88423-682-6

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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