Neugelesen – Folge 53: »Bulgariens Herz«, Herausgegeben von Rumjana Zacharieva

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Rumjana Zacharieva (Hg.): Bulgariens Herz

Die meisten populären Roadmovies spielen in den USA, was mir ein vollkommenes Rätsel ist. Denn seit wir die Reisefreiheit in Europa genießen, könnte man unzählige solche Filme auf unserem Kontinent spielen lassen. Aber eigentlich bin ich gar kein großer Freund von langen Autoreisen. Ich entdecke Europa lieber mit dem Zug. Dieses Jahr habe ich beides vereint: erst mit dem Zug mit Zwischenhalten in Budapest, Ungarn, und Bukarest, Rumänien, bis nach Sofia, Bulgarien. Von dort aus dann mit einem Mietwagen und einigen Freunden durch ganz Bulgarien bis zur Schwarzmeerküste und zurück. Wie alles haben beide Formen des Reisens ihre eigenen Vor- und Nachteile. Im Zug etwa kann man mit den Menschen eines Landes und anderen Reisenden hervorragend in Kontakt kommen. Man sieht sehr viel vom Land – statt nur von einer Autobahn –, kann sich freier bewegen und überhaupt sind die Züge anderer Länder zwischen deutlich luxuriöser und – sagen wir – abenteuerlich Teil der Geschichte eines Landes. Dafür ist man auf die Zugstrecken beschränkt und kommt schlecht in die Dörfer und abgelegeneren Orte, die man nicht verpassen sollte, wenn man schon durch ein Land reist und es kennenlernen möchte.

Wenn ich in ein neues Land reise, habe ich immer gern einen Reiseführer dabei. Klingt altmodisch, aber es gibt so gut recherchierte Reiseführer, dass sie manchmal eine Lektüre für sich wert sind. Das Internet ist mir dabei manchmal einfach zu groß und unstrukturiert. Es ist eigentlich so breit, dass man zwar alles findet, was man sucht, es aber schwer ist, das zu finden, was man nicht sucht. In so einem Reiseführer ist üblicherweise auch immer der Versuch einer Charakterisierung von Land und Leuten enthalten. Zu Bulgarien schrieb das Autorenpaar, dass die Landbevölkerung zwar sehr arm sei, in den Städten aber ein großer Aufbruch auf prächtigen Plätzen voller junger, motivierter Menschen zu spüren sei.

Was für mich auch stets Teil einer Reise ist, ist ein Lyrikband des jeweiligen Landes. So bin ich in meinen Reisevorbereitungen auf Zacharievas Bulgariens Herz aus dem Größenwahnverlag gestoßen. In diesem hat Rumjana Zacharieva 31 junge LyrikerInnen, geboren zwischen 1980 und 1995 erstübersetzt. Genau das, was ich gesucht habe! Was macht diese Auswahl an bulgarischen Gedichten aus? Der erste und prominenteste Eindruck war für mich überraschend, denn insgesamt sind sie sehr homogen. Sie zeugen von einer starken Melancholie und Innerlichkeit, von Familien und Zerwürfnissen, wie Wiedervereinigungen. Reime und einheitliche Rhythmen finden sich nicht. Alles kleine Zeugnisse vieler verschiedener Ichs.

Das hat mich dazu gebracht, meine eigenen Eindrücke des Landes infrage zu stellen. Denn die Verhältnisse sind extrem divergent zwischen Verfall und Aufbruch. Beides steht häufig sehr eng nebeneinander. Zum Beispiel verlassene Großbauprojekte auf frisch renovierten Plätzen oder Industrieruinen unweit von neuen Fabriken. Aber auch äußerst arme Menschen, die durch die Straßenzüge der Städte streifen und Betteln, zwischen Touristen und wohlhabenden Bulgarinnen und Bulgaren. Zudem die politische Vergangenheit, die, so habe ich mir sagen lassen, medial kleingehalten wird, die Menschen aber stark beschäftigt. So gastfreundlich wir Bulgarien erlebt haben, so schwierig scheint der Umgang mit den Sinti und Roma zu sein, glaubt man den Aussagen eines Straßenmusikers aus der Kunsthauptstadt Plovdiv, der gefragt hat, ob wir ihn nicht mit nach Deutschland nehmen könnten. Rundum also ein großes Spannungsfeld. Die vorgestellte junge Lyrik aus Zacharievas Anthologie spiegelt das nicht wieder. Entzieht sich die junge Kunst diesen Spannungen und flüchtet in die Innerlichkeit? Entweder das, oder ich verstehe die sprachliche Kodierung dieser mir fremden Lyrik nicht – beides scheint mir möglich. Denn einige der Sprachbilder sind mir unzugänglich. Sie lesen sich nicht übermäßig verrätselt, aber doch bleiben viele Fragezeichen.

Ich war froh, diesen Gedichtband mit dabei gehabt zu haben. Er war eine tolle Möglichkeit, ganz andere Stimmen des Landes auf meinen Reisen zu hören, auch wenn er entgegen meiner Erwartungen einen sehr unverfänglichen Ton angibt. Was ich mir sehr gewünscht hätte, wäre ein Essay und mehr Informationen über die junge Lyrikszene des Landes. Vielleicht auch eine literaturhistorische Einordnung der unterschiedlichen Stimmen. Was aber natürlich nicht fehlt, sind kurze Biographien zu allen Dichterinnen und Dichtern. Nach meiner Reise bin ich davon überzeugt, dass in Zacharievas Anthologie zwar nicht die Vielfalt der bulgarischen Lyrik abgebildet ist, aber doch eine bestimmte Art des Schreibens, die für sich sehr lesenswert ist.

 

"Bulgariens Herz", herausgegeben von Rumjana Zacharieva
Buchcover-Abbildung (Größenwahn Verlag)

 

 

 

Zacharieva, Rumjana (Hg.):
Bulgariens Herz. Gedichte … eines 31-Megabyte-Frühlings
31 junge Gegenwartslyriker*innen in Erstübersetzung aus dem Bulgarischen von Rumjana Zacharieva
Größenwahn Verlag, Frankfurt am Main
120 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3-95771-271-4

 

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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