Bücher können auftauchen und glänzen, aber auch einstauben und verschwinden – immer jedoch, und ganz gleich, wie alt sie sind: ihre Texte wollen neuentdeckt werden! David Westphal stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor.
Philippe Soupault: Was blieb von unseren Leidenschaften?
André Breton, Philippe Soupault: Die Magnetischen Felder
In jüngerer Zeit, also seit Beginn des Jahres, ist wieder verstärkt der Surrealismus im Gespräch. Mehrere große Tageszeitungen und andere Formate titeln: „100 Jahre Surrealismus“. Nämlich 100 Jahre nach der Veröffentlichung von André Bretons Manifest des Surrealismus. Das war der Beginn der surrealistischen Kunst: Miró, Dalí, Ernst und einige mehr beriefen sich auf dieses theoretische Werk. Doch etwas ist merkwürdig. Denn obwohl die bildenden Künstler des Surrealismus am bekanntesten sind, geht der Ursprung weitestgehend akzeptiert auf einen Schriftsteller zurück: André Breton. Und der war nicht allein. Er hatte in den Jahren zuvor gute Gesellschaft. Etwa von Louis Aragon, Paul Éluard, Benjamin Péret, Guillaume Apollinaire. Welcher Name in diesem Zusammenhang eher selten zu finden ist: Philippe Soupault.
Letzterem hat der Wunderhorn-Verlag zwei Publikationen gewidmet. Und zwar zum 105jährigen Jubiläum des Surrealismus. Dieser Auffassung sind zumindest die beiden VerlegerInnen Manfred Metzner und Christiane Schröter in ihrem Vorwort zu Was blieb von unseren Leidenschaften? In diesem kleinen Band erinnert sich der in Deutschland nicht so sehr bekannte Schriftsteller an die Zeit des DADA, seine engen Freunde Breton, Aragon, an Weggefährten wie Apollinaire und Paul Valéry. Mag dem ein oder anderen der Surrealismus noch sehr präsent und zeitgenössisch erscheinen, dem wird vor Augen geführt, dass vor 50 Jahren, als Soupaults Text entstanden ist, die Anfänge des Surrealismus schon 50 Jahre vorausgingen. Eine andere Perspektive eröffnet sich auf diese 100 Jahre. Und um Perspektivwechsel geht es ganz zentral im Surrealismus. Soupaults Text in der Übersetzung seiner Ehefrau Ré Soupault legt sehr eindringlich dar, wie entscheidend die Philosophie und Psychologie dieser Zeit ihr Schreiben beeinflusst haben. Zu nennen wäre insbesondere Freuds Psychoanalyse und das Konzept des Unbewussten. Es muss für die jungen Dichter so offensichtlich gewesen sein, dass etwas Einvernehmendes und Expressives wie Poesie die Geheimnisse des Menschseins zutage fördern kann.
Nur wie? Voller angelernter Denkverbote, moralischer und ästhetischer Kategorien würde man nie an die Substanz des Unbewussten rühren können. Was war der Schlüssel, die Methode? Es ist kein Zufall, dass sich die jungen Dichter beim Psychotherapeuten Pierre Janet und seiner Écriture automatique bedienten. Das automatische Schreiben war den Ursprüngen nach der Versuch, psychisch erkrankten Menschen einen Zugriff auf ihre unbewussten Blockaden zu geben, um diese zu heilen. Im Surrealismus ging es nicht zentral um Heilung, sondern eher um das Erkennen von verborgenen Strukturen in der und durch die Kunst. Der erste Versuch dieses Erkennens findet sich in dem Werk Die magnetischen Felder von André Breton und Philippe Soupault. Es war die erste literarische Annäherung vor 105 Jahren, die das künstlerische Feld eröffnet hat. Breton und Soupault waren gleichermaßen daran beteiligt.
Es ist zugegebenermaßen ein schwieriger Text. Prosa, Gedichte und Fragmentartiges liest sich so irritiert, wie die Methode es vermuten lässt. Bilder um Bilder, ein Gedankenfetzen jagt den nächsten. Es fühlt sich an wie ein Werkstatteinblick von zwei gierigen Geistern – und das sind die magnetischen Felder letztlich auch. Etwas, das jenseits bewusster Kategorien entstehen sollte, entzieht sich eben auch Werkzeugen des Lesens. Das hat seinen Reiz, auch heute noch.
Doch warum man sich diese beiden Publikationen zulegen sollte, hat andere Gründe. Sie geben einen so tiefen und persönlichen Einblick in die Entstehung einer der bekanntesten Kunststile schlechthin. Die grandiosen Texte um die magnetischen Felder herum riechen nach künstlerischer Freiheit ganz ohne Floskeln. Sie stellen auch einige Fragen an die heutige Kunst, die sich gerne engagiert bis hin zu aktivistisch und moralisierend gibt. Aber es ist keine l’art pour l’art, keine Kunst um der Kunst willen. Der zentrale Begriff ist der Skandal als Aufbruch einer knöchernen Gesellschaft: eine Gedankenrevolution und Hinwendung zum Wunder des Unbewussten im Alltäglichen. Warum Soupault nicht weiter zu großer Bekanntheit gelangt ist und wie sich der Surrealismus von diesem Punkt ab entwickelt hat, erfährt man auch. Aber das wird an dieser Stelle nicht verraten. Ich bin jedenfalls einmal mehr der Überzeugung, dass wir vom Surrealismus fernab vom heutigen Traum-Pop noch einiges zu lernen hätten. Schlüsseltexte dazu liegen in der Neuauflage bei Wunderhorn vor.
Soupault, Philippe
Was blieb von unseren Leidenschaften?
Übersetzt von Ré Soupault
Das Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2024
56 Seiten, Broschur
ISBN: 978-3-88423-720-5
David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
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