Neugelesen – Folge 63: Der Geist der Weihnacht; oder: Ohne mich!

Bücher können auftauchen und glänzen, aber auch einstauben und verschwinden – immer jedoch, und ganz gleich, wie alt sie sind: ihre Texte wollen neuentdeckt werden! David Westphal stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor.

 

Der Geist der Weihnacht; oder: Ohne mich!

Im Nachhinein darüber nachgedacht, war ich ein radikales Kind. Gerade so die zehn Jahre überschritten, habe ich zu meiner Mutter und meiner Großmutter gesagt, ich möchte keine Geschenke mehr. Sie waren entsetzt! Ein Kind, das keine Geschenke mehr zu Weihnachten möchte? Das ist aber sehr unweihnachtlich. Doch ich hatte einfach jeglichen Bezug zu Weihnachten verloren. Es soll um einen Gott gehen, an den ich nicht glaube. Es soll um irgendetwas Höheres gehen, Menschlichkeit, Spiritualität, aber eigentlich sehe ich nur, wie Leute sich auf die Füße steigen, um dieses und jenes Angebot abzukassieren. Überall brennen Kerzen, die Feuerwehr warnt. Brennen keine Kerzen, so brennen Lampen und verblasen Ressourcen. Da wollte ich nicht mitmachen. Im Grunde hat sich daran bis heute wenig geändert.

 

Theodor Storm (1817–1888)

Weihnachtsabend

An die hellen Fenster kommt er gegangen
Und schaut in des Zimmers Raum;
Die Kinder alle tanzten und sangen
Um den brennenden Weihnachtsbaum.

Da pocht ihm das Herz, daß es will zerspringen;
»Oh«, ruft er, »laßt mich hinein!
Was Frommes, was Fröhliches will ich euch singen
Zu dem hellen Kerzenschein.«

Und die Kinder kommen, die Kinder ziehen
Zur Schwelle den nächtlichen Gast;
Still grüßen die Alten, die Jungen umknien
Ihn scheu in geschäftiger Hast.

Und er singt: »Weit glänzen da draußen die Lande
Und locken den Knaben hinaus;
Mit klopfender Brust, im Reisegewande
Verläßt er das Vaterhaus.

Da trägt ihn des Lebens breitere Welle –
Wie war so weit die Welt!
Und es findet sich mancher gute Geselle,
Der’s treulich mit ihm hält.

Tief bräunt ihm die Sonne die Blüte der Wangen,
Und der Bart umsprosset das Kinn;
Den Knaben, der blond in die Welt gegangen,
Wohl nimmer erkennet ihr ihn.

Aus goldenen und aus blauen Reben
Es mundet ihm jeder Wein;
Und dreister greift er in das Leben
Und in die Saiten ein.

Und für manche Dirne mit schwarzen Locken
Im Herzen findet er Raum; –
Da klingen durch das Land die Glocken,
Ihm war’s wie ein alter Traum.

Wohin er kam, die Kinder sangen,
Die Kinder weit und breit;
Die Kerzen brannten, die Stimmlein klangen,
Das war die Weihnachtszeit.

Da fühlte er, daß er ein Mann geworden;
Hier gehörte er nicht dazu.
Hinter den blauen Bergen im Norden
Ließ ihm die Heimat nicht Ruh.

An die hellen Fenster kam er gegangen
Und schaut’ in des Zimmers Raum;
Die Schwestern und Brüder tanzten und sangen
Um den brennenden Weihnachtsbaum.« –

Da war es, als würden lebendig die Lieder
Und nahe, der eben noch fern;
Sie blicken ihn an und blicken wieder;
Schon haben ihn alle so gern.

Nicht länger kann er das Herz bezwingen,
Er breitet die Arme aus:
»Oh, schließet mich ein in das Preisen und Singen,
Ich bin ja der Sohn vom Haus!«

 

„Die Kinder alle tanzten und sangen // Um den brennenden Weihnachtsbaum.“ Dazu gehörte ich also nicht. Ein Motiv, das so eng mit Weihnachten verbunden zu sein scheint, wie kein anderes: fröhliche und vor allem kindliche Kinder. Ohne Zweifel, ohne Leid und Sehnsuchtsprojektion aller beteiligten Figuren. Theodor Storm, den man in der Schule als Vertreter des poetischen, bürgerlichen Realismus zuordnet, stößt in dasselbe Horn. Nun muss ein Autor freilich nicht immer programmatisch schreiben, aber war dieses Bild eventuell doch realistisch?

 

Ludwig Tieck (1773–1853)

Weihnachten

Wenn herüber zu meinem Garten
Die alten Lieder tönen,
Der Pfeifer, die aus dem Gebirge kommend
Jeglich Marienbild mit Weisen grüßen,
So dünk’ ich mich in seltsame, ferne
Wunderzeiten entrückt,
Und alte Legenden, und himmlische Sehnsucht,
Zarte Lieb’ und große Erinnerung
Quellen aus den rauhen, einfachen Tönen.
Tiefer, und inniger
Spricht der Frömmigkeit Wort
Die wunderliche Melodie,
Als in den Kirchen
Der neuen Künstler Wirrwarr,
Die alle Töne keck aufbieten
Um zu heucheln und zu grimassiren,
Und mit weltlichem Prunk
Das Heilige höhnen.

 

Das scheint mir deutlich realistischer. Obwohl Ludwig Tieck ja gemeinhin als Romantiker gilt. Wobei man unseren Alltagsbegriff von Romantik nicht mit der literarischen Epoche der Romantik verwechseln sollte, denn er ist deutlich vielschichtiger und hat wenig mit Schönrederei zu tun – wie man im obigen Gedicht zu spüren bekommt. Warum wurde einem eigentlich nie so ein Weihnachtsgedicht gezeigt? Stattdessen waren da immer nur Lobpreisungen, Erlösungsphantasien – als sei man besessen – und irgendwelche Kinderidyllen.

 

Theodor Storm (1817–1888)

Knecht Ruprecht

Von drauß’ vom Walde komm ich her;
Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr!
Allüberall auf den Tannenspitzen
Sah ich goldene Lichtlein sitzen;
Und droben aus dem Himmelstor
Sah mit großen Augen das Christkind hervor,
Und wie ich so strolcht durch den finstern Tann,
Da rief’s mich mit heller Stimme an.
»Knecht Ruprecht«, rief es, »alter Gesell,
Hebe die Beine und spute dich schnell!
Die Kerzen fangen zu brennen an,
Das Himmelstor ist aufgetan,
Alt’ und Junge sollen nun
Von der Jagd des Lebens einmal ruhn;
Und morgen flieg ich hinab zur Erden,
Denn es soll wieder Weihnachten werden!«
Ich sprach: »O lieber Herre Christ,
Meine Reise fast zu Ende ist;
Ich soll nur noch in diese Stadt,
Wo’s eitel gute Kinder hat.«
– »Hast denn das Säcklein auch bei dir?«
Ich sprach: »Das Säcklein, das ist hier;
Denn Äpfel, Nuß und Mandelkern
Fressen fromme Kinder gern.«
– »Hast denn die Rute auch bei dir?«
Ich sprach: »Die Rute, die ist hier;
Doch für die Kinder nur, die schlechten,
Die trifft sie auf den Teil, den rechten.«
Christkindlein sprach: »So ist es recht;
So geh mit Gott, mein treuer Knecht!«
Von drauß’ vom Walde komm ich her;
Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr!
Nun sprecht, wie ich’s hierinnen find!
Sind’s gute Kind, sind’s böse Kind?

 

Und schließlich treten sie einem auch noch moralisieriend und pädagogisch gegenüber. Vielleicht war es für mich als Kind gar nicht unbedingt die kapitalistische Ausbeutung der KonsumentInnen, zu denen auch ich gemacht werden sollte, sondern eher die Pädagogisierung, die mich gestört hat. Jesus vergibt uns alles, aber Knecht Ruprecht wird vom Christkindl beauftragt, uns zu verdreschen, wenn wir nicht brav sind. Ich gebe zu, ich war ein Problemschüler für alle Reli-Lehrerinnen und Lehrer. Aber warum sollte ich da gleich nochmal mitfeiern? Achja, es gibt ja was zum Abstauben, wenn man brav ist. Diese Verknüpfung war dem Schuhmacher Hans Sachs im 16. Jahrhundert schon bekannt.

 

Hans Sachs (1494–1576)

Das schlauraffenland

Ein gegent heißt schlauraffenlant,
den faulen leuten wol bekant,
das ligt drei meil hinter weihnachten,
und welcher darein wölle trachten,
der muß sich großer ding vermeßen
und durch ein berg mit hirßbrei eßen,
der ist wol dreier meilen dick;
alsdann ist er im augenblick
in demselbing schlauraffenlant,
da aller reichtum ist bekant.
da sint die heuser deckt mit fladen,
leckkuchen die haustür und laden,
von speckkuchen dillen und went,
die dröm von schweinen braten sent.
umb jedes haus so ist ein zaun
geflochten von bratwürsten braun,
von malvasier so sint die brunnen,
kommen eim selbs ins maul gerunnen;
auf den tannen wachsen die krapfen,
wie hie zu lande die tannzapfen,
auf fichten wachsen bachen schnitten,
eirpletz tut man von birken schitten,
wie pfifferling wachsen die flecken,
die weintrauben in dorenhecken,
auf weidenkoppen semmel sten,
darunter bech mit millich gen,
die fallen denn in bach herab,
das iederman zu eßen hab.

 

Sachs Beschreibungen von Völlerei und Gier gehen noch ein paar Seiten weiter, so wie man die Geschichte vom Schlaraffenland eben kennt. Und Sachs‘ Schlaraffenland liegt nur drei Meilen hinter Weihnacht. Das ist nicht weit! Kaufen, Fressen, Saufen – der dreifaltige Geist der Weihnacht. Doch neben dem Überfluss findet man manche Male stattdessen die Entbehrung als Motiv.

 

Hermann Löns (1866–1914)

Weihnachtsabend

Schwarz stehen die nackten Bäume,
Ich gehe am Holze her,
Der Weihnachtsabend ist dunkel,
Mein Herz ist müde und schwer.

Dünn klingt vom Försterhause
Der Kinder heller Gesang,
Die Christbaumlichter flimmern,
Vom Dorfe kommt Glockenklang.

Ich habe ihn lange vergessen,
Den alten Kindertraum,
Mir klingen nicht die Glocken,
Mir strahlt kein Tannenbaum.

 

Früher haben wir uns im Freundeskreis immer zynisch erzählt, dass die Selbstmordrate an solchen typischen Familienfesten am höchsten sei. Überprüft haben wir das nie. „Kein Wunder, wenn man die ganze Zeit mit seiner Familie verbringen muss“, haben wir gescherzt. Wohlwissend, dass Einsamkeit in unserer Gesellschaft ein echtes Problem ist und unser jugendlicher Galgenhumor uns hilft, uns mit diesem Fakt vertraut zu machen. In Friedrich Rückerts Kindertodtenlieder steckt diese Klage ebenso.

Friedrich Rückert (1788–1866)

Weihnachten frisch und gesund
Im frohen Geschwisterrund,
Am Neujahr mit blaßem Mund,
An den drei Kön’gen im Grund.
So thaten die Feste sich kund
Mit Tod und Grab im Bund.
Mein Herz bleibt bis Ostern wund
Und wird nicht bis Pfingsten gesund.

 

Rückert hat die Kindertodtenlieder geschrieben, nachdem seine beiden Kinder gestorben sind. Das ist der traurige Tiefpunkt aller Weihnachtsmotive, die ich gefunden habe. Die kindliche Fröhlichkeit zu Weihnachten und die Einsamkeit zu allen anderen Feiertagen, als sie nicht mehr bei ihm sind, machen betroffen. Dem kann man sich nicht erwehren. Sachlich gesehen ist es aber kein Zufall, dass das lyrische Ich Bezug auf die großen Feiertage nimmt. Das durch die Geschichte ständig beschworene Familienidyll, das so tief in unserem kulturellen Gedächtnis verankert ist und letztlich zur kapitalistischen Ausbeutung einlädt, verstärkt die Klage des lyrischen Ichs immens!

Bei all diesen wiederkehrenden Bildern von Geborgenheit, kindlicher Unschuld, Großzügigkeit und Frömmigkeit fühle ich mich in der Regel manipuliert. Manchmal habe ich den Eindruck, dass es niemand mehr für nötig hält, etwas an Weihnachten zu kritisieren: Alles schon gesagt! – während bei Aliexpress und Temu die Leitungen heiß laufen. Leute warten am Straßenrand auf einen Cola-Truck und den Cola-Weihnachtsmann, weil sie den aus der Werbung ihrer Kindheit kennen. Und die limitierte Weihnachtssonderedition (egal von was) ist nichts weiter als überteuerte, künstliche Verknappung. Das nennt sich normal. Ich halte es jedenfalls am liebsten mit Klabund.

 

Klabund (1890–1928)

Bürgerliches Weihnachtsidyll

Was bringt der Weihnachtsmann Emilien?
Ein Strauß von Rosmarin und Lilien.
Sie geht so fleißig auf den Strich.
O Tochter Zions, freue dich!

Doch sieh, was wird sie bleich wie Flieder?
Vom Himmel hoch, da komm ich nieder.
Die Mutter wandelt wie im Traum.
O Tannebaum! O Tannebaum!

O Kind, was hast du da gemacht?
Stille Nacht, heilige Nacht.
Leis hat sie ihr ins Ohr gesungen:
Mama, es ist ein Reis entsprugen!
Papa haut ihr die Fresse breit.
O du selige Weihnachtszeit!

 

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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