Poesie. Meditationen – Folge 11: Warum Liebesgedichte?

In den »Poesie. Meditationen« treffen Sie Timo Brandt: Der junge Lyriker und Lyrik-Kritiker (Jahrgang 1992) lässt Sie teilhaben an seinem ganz persönlichen Zugang zur Lyrik: Bei der Lektüre von Gedichten fließen Eindrücke zum Tagesgeschehen und poetische Impressionen zusammen. Der Leser begibt sich in einen beinahe meditativen Zustand, ganz im Hier und Jetzt und achtsam gegenüber den Phänomenen im gegenwärtigen Augenblick. Der Verknüpfung von Gedicht und Gedankenfluss geht Brandts Kolumne nach.

 

Es ist einer meiner größten Wunschträume eines Tages aus all den verschiedenen, großartigen Gedichtbänden, die ich gelesen habe, die Liebesgedichte heraus- und zusammenzusuchen und einen kleinen schmalen Band herauszubringen, in dem wirklich nur die wichtigsten, schönsten, vollkommensten von ihnen enthalten sind.

Natürlich würde es kein schmales Bändchen werden. Denn immer wieder bringt mir jemand ein Liebesgedicht nah, das ich bisher unterschätzt habe oder ich lese/höre irgendwo ein Liebesgedicht von einem Dichter, den ich einst beiseitegelegt hatte und nun doch einmal lesen müsste – und welche Gedichte von e.e. cummings oder W. H. Auden oder Ted Hughes oder Erich Fried würde ich denn NICHT mit hineinnehmen wollen? Ich habe klare Favoriten, aber vielleicht unterschlägt mein Geschmack gerade jene Gedichte, die etwas einfangen, was wichtige wäre über die Liebe zu sagen. Und was ist außerdem mit all den Songtexten, die oft eine einfachere und direktere Beziehung zu unseren Gefühlen finden, als ein Gedicht (das uns manchmal in die Reflexion zwingt oder Gefühle bildhafter, greifbarer macht als sie sind) und mit ihrem Pulsschlag unser Empfinden aufnehmen, tragen, spiegeln.

Es wäre eine Aufgabe für alle und für niemanden diese ultimative Sammlung von Liebesgedichten zusammenzustellen. Mir wird wohl mein Leben lang nur meine ganz inoffizielle, unvollständige Liste bleiben, immer wieder ergänzt durch neue Entdeckungen in Büchern und in Formen der Liebe, die ich wiederum vielleicht in Gedichten wiederfinde, die dann zu Liebesgedichten für mich werden.

Warum Liebesgedichte? Es gibt eine sehr einfache Antwort: Weil wir alle sterben werden. Und das heißt nicht, dass wir schon tot sind, sondern dass wir gelebt haben. Und leben werden bis dahin. Die Liebe ist nicht nur die Kraft, die viel von dem letztendlich Erfreulichen auf der Erde stiftet – und gleichsam eines der (wenigen) Gefühle, die uns vermitteln, dass wir in diesem Universum willkommen sind – sie erstreckt sich auch gleichstark auf alle Dimensionen des Erlebens: auf alle Sinne und eben auch auf die Ebenen der Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben alle eine Weise, die die Liebe hervorbringt, bewahrt, ausdrückt und am Leben hält: durch Erinnerung, Erlebnis, Sehnsucht und Hoffnung.

Unser aller Tod trennt uns und ebenso verbindet er uns. Er sollte uns dazu bringen, einander zu sagen, wie viel wir uns bedeuten. Liebesgedichte sind eine Möglichkeit. Joan Jett sang: »We are not ashamed/ to say that love is pain.« Eine traurige Wahrheit, aber darin steckt auch: Liebe gibt es, denn manchmal tut sie weh. Liebe gibt es und wenn ich das vergesse, lese ich ein Liebesgedicht, und wenn ich mich daran erinnere, dann schreibe ich ein Liebesgedicht.
 

Timo Brandt
Timo Brandt

Die »Poesie. Meditationen« werden Ihnen von Timo Brandt (Jahrgang 1992) präsentiert. Er studiert derzeit an der Universität für angewandte Kunst in Wien, am Institut für Sprachkunst. Er schreibt Lyrik und Essays, außerdem veröffentlicht er Literatur-Rezensionen auf seinem Blog lyrikpoemversgedicht.wordpress.com, Babelsprech.org und Amazon. 2013 war er Preisträger beim Treffen junger Autoren.

Alle bereits erschienenen Folgen der »Poesie. Meditationen« finden Sie hier.

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