Kenner und Könner
Rezension von Hellmuth Opitz
Laut wissenschaftlichen Untersuchungen werden in etwas mehr als fünf Jahren mehr als 75 Prozent aller über soziale Medien geteilten Meldungen und News aus Bewegtbildern bestehen. Statische Bilder, vor allem aber Textnachrichten werden deutlich zurückgehen. Insofern ist der Titel von Timo Brandts zweitem Gedichtband »Ab hier nur Schriften« ein erfrischendes Kontra- oder Retro-Statement, in dem die unbedingte Leidenschaft des Autors zur Sprache, zum geschriebenen Wort spürbar wird, der Glaube ans Gedicht, das im Zweifelsfall immer noch mehr bewegende Bilder bereithält als jedes Bewegtbild.
Der Titel ist aber noch aus einem anderen Grund bemerkenswert, dazu muss man ein klein wenig ausholen: Timo Brandt ist nicht nur ein veritabler Bücherfresser, sondern besticht auch durch einen geradezu beneidenswerten Output. Jeden Tag postet er bei Facebook mehrfach seine Gedicht-Fundstücke von unterschiedlichsten Dichtern und Dichterinnen, was auf geradezu obsessive lyrische Lektüre schließen lässt. Zusätzlich rezensiert er auf unterschiedlichen Online-Lyrik-Portalen poetische Neuerscheinungen in einer Taktzahl, die erstaunen lässt. Das heißt, dass dieser junge, 1992 geborene Autor sich in kürzester Zeit einen umfassenden Kenntnisfundus und dazu ein stilsicheres Urteilsvermögen angeeignet hat. Er saugt Poesie auf wie ein Schwamm.
Doch diese Kennerschaft kann einen hohen Preis haben, vor allem, wenn man dann anfängt, selbst zu schreiben und zu veröffentlichen. Seine eigene Stimme zu finden, wenn man quasi unter Aufsicht aller lyrischen Stimmen schreibt, die man bislang gelesen oder gehört hat, ist nicht einfach. Kenner sein und Könner sein, sind zwei grundverschiedene Dinge. Unter dem Damoklesschwert der Vorbilder zu schreiben, hätte dazu führen können, dass Timo Brandt seinen Gedichtband zwar »Ab hier nur Schriften« genannt hätte, einen beim Lesen aber das Gefühl beschleichen würde, er hätte »Hier nur Abschriften« lauten müssen. Aber dafür ist Timo Brandt ein zu gewiefter Dichter. Vielleicht auch jemand, der sich von großen Namen nicht einschüchtern lässt. Gleich im ersten Gedicht »Wider den Tag, dem 23.« lässt er ein erfrischend unbekümmertes Namedropping vom Stapel. Charles Dickens trifft auf Rousseau, dann mischen sich Trakl, Eichendorff und Hoffmann ein, man erwischt Ephraim Kishon beim Kiffen, Dan Brown wird als Lügner enttarnt und am Ende zwitschert der unvermeidliche Rio Reiser aus allen Laptop-Monitoren.
Zwischendurch wird dieses lyrische Soufflé durch popkulturelle Bezüge, politische Themen und private Party-Erlebnisse aufgeplustert: die Diskussion um Plastikmüll meets Coca-Cola-Automaten meets Garfield-Comics meets Jungstarlyrikerinnen aus Bochum. Und als Leser denkt man: Holla, ein sehr lässiger Gestus, mit dem hier ein poetisches Potpourri angerührt wird. Vielleicht fehlt ein wenig die sendungsbewusste Dringlichkeit, mit der Allen Ginsberg so ein Namedropping gewürzt hätte. Oder die ostentative Coolness und Respektlosigkeit, mit der einst Wolf Wondratschek den Dichterfürsten Goethe oder gar den Sohn Gottes anrempelte. Aber dennoch: Chapeau! Es braucht schon ein gewisses Standing, um so heterogene Inhalte auf lyrische Langstrecke in einen Zusammenhang stellen zu können.
Was auffällt, sind die in diesem Band locker eingestreuten Liebesgedichte. Wie etwa das Gedicht »Alte Flammen«, das mit genauem, aber zärtlichem Blick ältere Frauen ins Visier nimmt, die einst begehrte junge Frauen waren. »Ihr Lachen, / als kickten sie die Sonne von einer zur andern.« Jahrzehnte später sind sie: »Nun stille alte Damen, mit wabernden / Frisuren und Verständen, / mit Leben, die nicht enden.« Ein Gedicht, ganz im Sinne des vorangestellten Leonard-Cohen-Zitats »Let me see your beauty, when the witnesses are gone.« Es ist der intimere Blick, abseits der objektiv wahrgenommenen Schönheit. Geprägt von dieser lebensklugen Feinfühligkeit ist auch das wunderbare Liebesgedicht »Das Handtuch«. Hier imaginiert das lyrische Ich den Wunsch, ein Handtuch sein zu können »an Tagen, an denen der Wind kräftig weht«. Es geht aber nicht darum, dass »meine Farbe eine Form von Wind mitmacht«, sondern um etwas anderes:
ich wär nur gern
ein Handtuch, um einmal zu trocknen,
einmal den Zustand verändern zu können,
in dem sich ein anderer Mensch befindet – ohne
dass ich mich dazu veräußern oder in ihn dringen
muss.
Ich will ein Handtuch sein und alle nassen Stellen
an einem warmen Körper trocknen. Dann
will ich im Wind hängen und all die Nässe soll
langsam, langsam trocknen.
Das Gedicht balanciert auf einem schmalen Grat, wenn man bedenkt, in was für Gegenstände sich selbst royale Liebhaber hineinsteigern, um ihrer Geliebten so nahe wie möglich zu sein. Und man ahnt mit leichtem Schaudern, wie minderbegabte Dichter einen solchen Stoff verhunzt hätten. Aber Timo Brandt gelingt der Drahtseilakt, obwohl rechts und links Abgründe aus Pathos und Peinlichkeit lauern. Er geht das Risiko ein, oder wie Benn sagt: »Man muss dicht am Stier kämpfen, sagen die großen Toreros, vielleicht dann kommt der Sieg.«
Was an Timo Brandts Gedichtband auch abseits der Liebesgedichte überzeugt, ist seine Unvorhersehbarkeit, vielleicht auch die Vielstimmigkeit. Da gibt es flüchtige Wahrnehmungen in »Fragmente einer Sprache des Wunders«, forcierte Materialsammlungen lyrisch aufgeladener Substantivteilchen in »Mayröcker mitschreiben« und spöttische Chansons wie »Das Lied des Vergessens«, gezielt gemünzt auf die »biederen mustergültigen Leute«, in dem es heißt: »Ihr müsst euch nicht hinunterbeugen / Ihr könnt den Kopf in den Wolken lassen / Und weiter an Bequemlichkeiten schrauben.« Das ist das Schöne an diesem Gedichtband: Man blättert eine Seite um, als ob man auf der Straße um eine Ecke biegt, und schon macht man die erstaunlichsten Bekanntschaften.
Timo Brandt
Ab hier nur Schriften
Gedichte
Aphaia Verlag 2019
68 Seiten
9,90 Euro
ISBN 978-3-946574-08-8