Poesie. Meditationen – Folge 8: Das, was wir nie verloren haben

In den »Poesie. Meditationen« treffen Sie Timo Brandt: Der junge Lyriker und Lyrik-Kritiker (Jahrgang 1992) lässt Sie teilhaben an seinem ganz persönlichen Zugang zur Lyrik: Bei der Lektüre von Gedichten fließen Eindrücke zum Tagesgeschehen und poetische Impressionen zusammen. Der Leser begibt sich in einen beinahe meditativen Zustand, ganz im Hier und Jetzt und achtsam gegenüber den Phänomenen im gegenwärtigen Augenblick. Der Verknüpfung von Gedicht und Gedankenfluss geht Brandts Kolumne nach.

 

Leben, das besteht aus Erfahrungen, einer Aneinanderreihung von Erfahrungen. Manche machen wir täglich, manche von Zeit zu Zeit und manche nur ein paar Mal, willkürlich reihen sie sich oft in den Verkehr ein, der über die Brücke fließt, die uns und das Universum miteinander verbindet. Es gibt größere und kleinere Erfahrungen, ihre Ausdehnung und Bedeutsamkeit unterscheiden sich und unterscheiden wir.

Ganz zuletzt gibt es noch jene, die wir vielleicht nur ein- oder zweimal machen, bestimmtere, speziellere Erfahrungen, gemacht aus etwas Ungewöhnlichem, das uns umgibt, als sei es uns nur sehr vertraut. Sie umgibt ein großes Geheimnis; oft ist keine direkte Erinnerung an sie vorhanden; etwas in uns braucht eine ganz besondere Stimmung, um sich mit diesem Moment verbinden zu können.

Und dann geschieht ein Gedicht. Ein Gedicht, das vielleicht in seinem großen, weiten Spiel, gar nicht dorthin will, nicht zu diesem Gefühl. Aber es stößt für dich die Tür auf; es stößt dich in den Raum, darin alles angeordnet ist, wie einst in dem besonderen Moment. Es vervollständigt, was unbekannt und doch bekannt ist.

Vollständig. Das ist das Wort. Ein Gedicht kann etwas vollständig machen, etwas, das dir abhanden gekommen ist. Warum schätzen wir Liebesgedichte? Wir können empfinden, wie dort gesprochen wird von all den Facetten, die wir selbst, wenn wir uns im Licht unserer Erfahrungen wenden, hervorglänzen sehen, schön und schmerzlich-hell, denn verdunkeln tun Gefühle nie, nur sich entfernen, lange fehlen, auch das lehren Gedichte uns, jedes Mal.

Wenn man Keats »Ode on a grecian urne« liest, tritt es deutlich hervor, was ich meine – ja: Keats erklärt es hier anhand eines illustren Beispiels, der berühmten griechischen Vase aus den Wäldern und Bergen einer vorzeitlichen Welt. Hier ist alles bewahrt: Bäume, Musiker und Liebende reihen sich auf dem Rund der Urne, alterslos und doch schon längst Vergangenheit, die sich als solche mit einiger Wichtigkeit zu präsentieren weiß. Aber Keats schlüpft unter die Schale. Wer, fragt er, wer sind diese Leute auf dem rauen Ton des Gefäßes? Sind sie nicht ein Sinnbild für die Vergänglichkeit, mögen manche sagen, manche: ein Beweis für die Ewigkeit?

Aber Keats sieht tiefer. Und entdeckt für sich und für seine unsterblichen Verse die Wahrheit hinter dem schematischen Prinzip. Ist nicht die Wahrheit, dass die Schönheit der Vase daraus resultiert, dass wir nie das Verlassen haben, was auf der Vase abgebildet ist? Das Musikspiel, der fast vollzogene Kuss, die Versammlung der Menschen, der Baum im Wind – wir haben unsere Welt auch heute nicht anders aufgebaut.

Es ist nicht zu verlieren, selbst wenn die Vase zerbricht. Nur wenn wir aufhören uns von der Schönheit, also dem Erleben, das wir aufgebaut haben, gegenseitig zu erzählen, endet das, was schon in dem Moment unsterblich ist, wo wir ihm begegnen. Denn es kommt nicht von irgendwoher. Es kommt aus uns selbst und wir sind Erbe eines Guts, das uns umgibt und welches das Gedicht immer wieder durchdringt: das Leben.
 

Timo Brandt
Timo Brandt

Die »Poesie. Meditationen« werden Ihnen von Timo Brandt (Jahrgang 1992) präsentiert. Er studiert derzeit an der Universität für angewandte Kunst in Wien, am Institut für Sprachkunst. Er schreibt Lyrik und Essays, außerdem veröffentlicht er Literatur-Rezensionen auf seinem Blog lyrikpoemversgedicht.wordpress.com, Babelsprech.org und Amazon. 2013 war er Preisträger beim Treffen junger Autoren.

Alle bereits erschienenen Folgen der »Poesie. Meditationen« finden Sie hier.

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