»Prachtvolle Mitternacht« von Ron Winkler

rezensiert von Paul-Henri Campbell

»Prachtvolle Mitternacht« von Ron WinklerRon Winkler »Prachtvolle Mitternacht«

»Prachtvolle Mitternacht« (Schöffling & Co. 2013) – wer die Droge dieser Gedichte zu sich nimmt, wird ihren narkotischen Sog, den heitermelancholischen Bann nie verlassen können: »in der Salbung genannten Nacht. blau / und silbern schlägt sie auf unsere Augen hernieder. / und so versprechen wir gern, / aus unseren Mördern niemals wieder / Herzen zu machen« (Winkler: Gesang der Feen).

Ron Winkler (geb. 1973) lebt in Berlin und legte letztes Jahr mit »Prachtvolle Mitternacht« seinen zehnten Gedichtband vor. Neben Übersetzungen aus dem Amerikanischen von z. B. Jeffrey McDaniel oder David Lerner, war der Leonce-und-Lena-Preisträger (2005) auch als Herausgeber aktiv und hat in dieser Funktion z. B. die kokainhaltige Anthologie »Schneegedichte« (2011) dem Publikum übergeben. Zahlreiche seiner Gedichte sind in anregenden Kooperationen vertont worden wie auch viele seine Bücher mit coolen Illustrationen ausgestattet sind.

Sein neuer Band hat einen günstigen Stern im funkelnden Mirakel des Firmaments. »Prachtvolle Mitternacht« – ist das eine Hommage an Durs Grünbein (»Erklärte Nacht«, Suhrkamp 2002), über den Ron Winkler so viel schon nachgedacht hat? Durs Grünbein hat seine Wurzeln im sächsischen Dresden; Ron Winkler im nicht weit entfernten thüringischen Jena. Es ist jener Teil Deutschlands, der sowohl vom klassischen Erbe als auch von der Romantik tief geprägt worden ist. Beide Lyriker entspringen also diesem sonderbaren Terrain, auf dem sich Metaphern einer tröstenden Antike mit dem sphinxartigen Luxus des Pfaus und der silbererzen-lüsternen Romantik der Kolchose vermengten, um die eigenwilligsten Kreaturen hervorzubringen, die man sich vorstellen kann: »der junge Kustos im Kahnbett – // mit einer PVC-Fernmeldepeitsche / justierte er das Programm // von seinem Lager aus, am Fußende der Junost der Begierde / aus Technograd« (Winkler: Erinnerungen auf Basis des bisher geleisteten Vergessens).

Die Differenz jedoch zwischen Durs Grünbein und Ron Winkler ist keineswegs lediglich eine generationelle oder motivische Differenz; sie ist eine tiefgehende Differenz in der Natur des poetischen Zugangs zur Wirklichkeit. Denn Ron Winkler hat einen unverwechselbaren Gestus geschaffen, eine Bewegung, Regung und Erregung des Subjekts in der Sprache; dieser Gestus ist nicht nur von ästhetischer Art, sondern auch durchdrungen von einer moralischen und existenziellen Energie, die sowohl die Hochgefühle der Liebe befeuert wie auch das Sich-Verlieren im Abgrund der Erkenntnis, der Erinnerung und der Selbsterkundung: »mir fehlt die Tonleiter, um von diesem Baum // zu ernten // dafür kann ich achtzig Mal // pro Minute ehrenhaft zwinkern. // ein Erbe // der Kindheit« (Winkler: Gedanken des Piloten bei eingeschaltetem Autopilot).

Ich möchte drei Aspekte dieser Sammlung betrachten, die keineswegs bindende Perspektiven sein müssen: Zunächst möchte ich die Inszenierung der Sehnsucht als einen negativen Diskurs betrachten; um dann zweitens einige Beobachtungen zum Long Poem von der Winklerischen Provenienz vorzustellen; und schließlich drittens das Liebesgedicht im Noir-Stil anschauen.

Die Geburt der Sehnsucht aus dem Geiste ihrer Verneinung

Ron Winkler eröffnet mit einem »Prospekt«. Jedes Lexikon wird uns an die Polysemie des Wortes erinnern: Prospekt, das ist ein perspektivisch gemalter Bühnenhintergrund, die Schauseite einer Orgel, ein bebildertes Faltblatt oder die »russische Bezeichnung für lange, breite Straße« bzw. passender: »öffentliche Darlegung der Finanzlage bei beabsichtigter Inanspruchnahme des Kapitalmarkts« (Duden). Etymologisch meint Prospectus schlicht hinaus in die Ferne schauen.

Dieser semantische Horizont könnte gewiss die Rezeption bzw. die ästhetische Erfahrung des Texts beeinflussen. Der Prospekt setzt wie folgt ein: »nicht mehr teilnehmen. nicht mehr jeden Abend / mit Tesafilm Blüten vor dem Verfall zu retten versuchen. / […] kein Aroma mehr, kein Kaddisch, kein Australien. nicht mal keine Tage mehr / vergeuden«.

Der Prospekt verweist ins Künftige im Rückgriff auf Vergangenes, denn das »nicht mehr« ist die Wasserscheide von »ab jetzt«. Winkler präsentiert nun ein Inventar des »Nicht-Mehrs« im Modus einer entpersonalisierten Rede. Kaum klingt ein »Ich« an. Man gewinnt den Eindruck hier plätschert ein innerer Monolog dahin, der sich nicht als Subjekt in seiner Rede als solches behaupten muss, da Sprecher und Adressat eine und dieselbe Person sind. Die Stimmung ist – in dieser Lesart – geprägt von Lossagung, auch Bedauern, etwas Überdruss, Enttäuschung. Es ist ein Einschwören aufs Kommende, in dem aber die hier negierten Geister nachhallen:

»Aroma«, das römische Zeichenbuch Durs Grünbeins (dem im Übrigen auch ein Gedicht FORMA URBIS ROMAE vorsteht, das über das »nicht mehr« antiker Größe klagt: »nichts mehr da von der Pracht« oder »Nicht mehr hallen die Schritte«).

»Kaddish«, Allen Ginsbergs Klage über den Verlust seiner Mutter (1959), über die Entfremdung von seiner Religion (»no more to say, and nothing to weep« oder »no more of his sweetness« oder »no more of sister Elanor« oder »nor your memory of your mother«). »Australien«, diese wundervollen Jan-Wagnerianischen »Pasteten« (?).

Im vollen Bewusstsein der Verstrickung mit diesen Geistern, sich lossagen, Abschied nehmen. Und es gibt so viele Dinge, von denen der Prospekt Abschied nehmen möchte: »nicht mehr Pyrolysevorgänge zu Götzen machen«, »keine Entgegennahme mehr / entlaufener Elefanten«, »nicht mehr die Hauseingänge, die in den Dämon führen«, »nicht mehr das Gedicht zwischen Schmetterling / und Untergang« usf. Es herrscht eine Sehnsucht nach Andersheit vor, die aber nur ex negativo ausgedrückt werden kann, eine Art negative Poetologie.

»Es war einmal« wird negiert zum »nicht mehr«; Ron Winkler erreicht das Ende aller Märchen des Selbst. Pyrolysevorgänge, die Lösung und die Brüche, welche als Götzen gefeiert worden waren, davon nichts mehr. Die entgegengenommenen Elefanten, welche doch in ihrer Surrealität vielleicht eben nur Mücken waren, davon nichts mehr. Die Gedichte in »Prachtvolle Mitternacht« werden nun zeigen, dass die Hauseingänge nicht mehr zu den Wohnungen des Dämons, sondern ins Reich der Feen führen werden. Dazu muss allerdings das Gedicht vom »nicht mehr« die Schwelle zum »ab jetzt« überqueren; dieser Übergang wird in den letzten Zeilen des Texts mit dem Wort »aber« eingeleitet.

Das Prospekt schließt mit diesen Versen: »aber und ist eine Rose / und also mehr als eine Rose / und also zugleich keine Rose mehr. / nicht mehr. und auch: nie mehr: nie / mehr: nie mehr / nichts«. Das »und« ist kursiv gesetzt. Der metaphorische Prozess setzt Rose mit Und äquivok. »Und« ist (als Rose) eine konkrete Ausblühung mit Dornen; »Und also« ist »mehr« als die Ausblühung doch zugleich »keine mehr«. Der Prospekt hat die Schwelle aus dem alten Nicht-Mehr überschritten, ohne es zu verleugnen, sondern im Modus des Abschieds; der Prospekt schaut aber nun ins Andere, ins ersehnte Neue, das wiederum eine Negation der Negation ist: »nie mehr / nicht«.

Leider kann ich diesen ersten Text in Winklers Gedichtband an dieser Stelle nicht weiter vertiefen. Viel wäre etwa zu sagen zur Wirksamkeit der Epiphora-Struktur, die das gesamte Gebilde klangvoll rhetorisch durchzieht; oder z. B. zu den Zeilensprüngen, die auf der Ebene der Zeile quer zum (gelegentlichen gebrochenen) syntagmatischen Fluss der poetischen Rede anregende Assoziationen ermöglichen.

Insgesamt aber könnte man sagen, dass das Prospekt den Gedichtband in einer Atmosphäre eröffnet, in der eine Sehnsucht nach Andersheit entsteht, dem Aufhören von diesem und dem Beginn von jenem, dem nicht-mehr-so und dem von-nun-an-so; diese Sehnsucht gewinnt ihre Energie in der Verneinung dessen, was sie als Begehren ausschließt, und drückt schlussendlich positiv »und also« aus, was die unbekannte Offenheit des Kommenden ermöglicht. Oder so in die Richtung.

Long Poem & Ron Winkler & die Pocahontas der späten DDR

»Prachtvolle Mitternacht« ist in vier Abteilungen gegliedert. Der Band enthält neben vielen stand alone Texten, auch Zyklen (wie »Venezia non finitio«), Prosagedichte bzw. poetische Prosa, Sentenzen oder Aphorismen sowie einige Langgedichte. Ich möchte zunächst Beobachtungen zu Ron Winklers Langgedicht »Erinnerungen auf Basis des bisher geleisteten Vergessens« notieren.

Winklers Langgedicht ist keineswegs lang im Sinne von etwa Nabokovs »Pale Fire« oder William Carlos Williams »Paterson«. Es füllt gerade mal knapp sechs Seiten (etwa 180 Zeilen, die in unregelmäßige Blöcke mit jeweils einer oder bis zu 14 Zeilen untergliedert sind). Gleichwohl zieht es in sich zusammen eine ausreichende Menge an Erfahrungsreferenzen, um es abgrenzen zu können von den übrigen eher kurzen Texten. Es erzeugt einen eigenständigen Kosmos der Erinnerung. Es ist gewissermaßen die Summe einer Kindheit hinter dem Eisernen Vorhang.

Es ist lohnenswert hier einen Gedanken aus Walter Höllerers »Thesen zum langen Gedicht« (1965) zu bemühen, darin einerseits die Forderung ausgesprochen wird, mit dem Gedicht eine emanzipatorische Ermöglichungsperspektive zu schaffen und hierfür andererseits die »Überbleibsel aus der Summe der Wahrnehmungen« zusammenzuführen: »Im langen Gedicht bauen wir, aus den verschiedensten Wahrnehmungen, eine mögliche Welt um uns auf, sparen uns aus und erreichen auf diesen Weg, dass wir sichtbar werden« (Höllerer, Thesen zum langen Gedicht).

Nun ist in Ron Winklers Kindheitsgedicht die mögliche Welt eine vergangene Welt. Sie muss aber als Dichtung wiedergewonnen werden, um wieder eine »mögliche Welt« zu sein. Und so wird es möglich in diesem Gedicht zu sehen, wie die individuelle Erfahrung ihr Recht einklagt, ihr Recht selbst Teil der Erinnerung zu sein. Individuelle Erfahrung tut dies im Kontrast zu der schematisierenden, generalisierenden, dabei vergessende und ausblendende Erfahrung, die wir in Form von Geschichtsschreibung gelegentlich zu sehr verabsolutieren.

Ron Winklers »Erinnerungen auf Basis des bisher geleisteten Vergessens« lassen eine Schrapnellgranate einschlagen auf die wissenden, gusseisernen Narrative der Geschichtsschreibung: »Geschichtsbücherjahre […] / und von den Stoppeln ging ein Glosen / aus, das in die Sonne fand«. Sonne meint die scheinbar bestimmte Helligkeit der Historie; demgegenüber das schwache Flimmern (»Glosen«) im Stoppelfeld der vom Vergessen niedergemähten Konkreta der Erinnerungen.

Geschichtsschreibung leistet einen beachtlichen Beitrag zur kulturellen Amnesie; Dichtung hingegen genießt das Privileg, sich von den grand narratives abzusetzen und stiftet Gedächtnis auf Basis von subjektfundierten Einzelheiten, die gewiss typologische und paradigmatische Spuren aufweisen, aber niemals subsumierbar sind in das Gespenst der nationalen Geschichtsschreibung.

»Erinnerungen auf Basis des bisher geleisteten Vergessens« vermittelt eine Fülle von Ereignissen im ländlichen Milieu einer Kolchose aus der simulierten Beobachterperspektive des Kindes: »die zweigeteilte Tür am Stall gab den Blick auf / halbe Tiere frei«. Vielleicht könnte man hier von einem Fall postsozialistischer Bukolik sprechen, denn diese fast archaisch wirkende Welt ist durchsetzt mit Hinweisen auf die technische Beherrschung der Natur und der industriellen Beherrschung des Menschen: In dieser Welt sind Arbeiter neben Bauern, »Harken«[1] werden verwendet neben »Kombinen« (Sowjetdeutsch für »Erntemaschine«). Diese bäuerlich archaische Welt ist aber auch bevölkert von »Offizianten«, also den Beamten des ehemaligen Bauern- und Arbeiterstaats.

Im Kontrast zur Chronologie der Geschichtsschreibung nimmt nun das Gedicht verschiedene Dimensionen von Zeitlichkeit auf, die dieses Umfeld prägen: »es war Sommer«, dann: »es war Herbst«, dann: »es war Frühling«, dann: »es war ein offizieller Feiertag«, dann: »es war noch hell, war Sommer, mein Haar wechselte / die Färbung, war jetzt Espe«, dann: »es wurde Montag bald« und plötzlich: »heute weiß man«. Winkler durchbildet den Text entlang verschiedener Zeitmarker: den natürlichen Jahreszeiten, den kulturell kodierten Feiertagen, den existenziellen Coming of Age-Momenten, aber auch den politischen Wendezeiten, dem »Montag« doppelt kodiert mit den Montagsdemonstrationen, die das Ende der DDR einleiten sollten sowie dem expliziten Offenlegen der Perspektive des Gedichts als Retrospektive aus dem Standpunkt im »heute«.

Aber Zeitlichkeit ist nicht die einzige Ordnungslogik in diesem Langgedicht. Auch leitmotivische Elemente organisieren den Fluss dieser Anamnese, etwa die Figuren der Großeltern, die Tiere und Vegetation (z. B. Kühe, Hühner, Mais, Hirsche, Schafe, Heu etc.) oder auch Professionen wie »Postbotinnen«, »Schlachthoflerinnen«, »Zigarrendreher«, »Transistorradiologen« und schließlich die expliziten Insignien der DDR wie z. B. der sowjetische Kofferfernseher »Junost«, ein »Fünfzähneplan«, »Ferkeltaxe«, die Zeitung »Volkswacht«, der »Trabant«, das »System / das eine Flagge hatte, die nach Ernte schrie«. Zudem durchziehen verschiedene Topographien und Positionswechsel den Text: der Stall, die »Schmutzspurstraße«, der »Postbotenpfad«, das Dorf sowie imaginierte Orte wie das aus Büchern erlesene »wortreiche Manhattan«. Insgesamt erzeugt der Diskurs auf diese Weise eine gebrochene Atmosphäre der Intimität und bietet somit die Möglichkeit einer authentische Inszenierung des echten, richtigen Lebens im Falschen, wobei hier falsch nur gemeint sein kann im Sinne der retrospektiven Evaluation (etwa der Geschichtsschreibung).

Die Beobachterperspektive des Kindes wird verortet unter anderem im Maisfeld, »ich stand im Mais«; aber die eigentliche Matrix des Langgedichts wird als Zitat angedeutet und verändert an diesem Standpunkt alles. Kursiv gesetzt, montiert Winkler einen Vers aus Goethes »Prometheus« in den Text: »übe dich, dem Knaben gleich«[2]. In Goethes Hymne folgt aber ein Vers, den Winkler nicht mehr zitiert: »übe dich, dem Knaben gleich / der Disteln köpft«. Die Intertextualität hier verweist auf den Ausbruch aus dieser Welt der Kolchose, vielleicht auch eine Abrechnung: im Feld der Erinnerung, da werden die Disteln geköpft. Als Intertextualität verweist es aber auch auf die vorangehenden Verse in Winklers Gedicht, in dem Bücher eine Welt ermöglichen, die dem Kolchosen-Bewohner verwehrt bleibt, aber in sprachlicher Form durchaus erkundet werden kann: »und dann beherrsche. die Bücher- / borde vis-à-vis, ein kleines wortreiches Manhattan / […] / der muffige Geruch / den dieser Central Park verströmte, war wie vom Reservoir / beströmt, andächtig glitten meine Finger / über letzte Mohikaner, den Rücken Lenin«.

Sicher, man hat schon gelegentlich das Gefühl, Ron Winkler inszeniere sich in dieser archaischen Welt der Kolchose zu einer Pocahontas der späten DDR. Aber man wird trotz der sentimentalen, auch leicht nostalgischen Temperierung des Textes nicht nicht sagen können, dass es sowohl in der Summe wie auch in den Details unglaublich stark ist. Zum Beispiel sind zahlreiche Ahnungen des Heranwachsens, was an sich schon ein Ausbruch und ein Verlassen der alten Welt der Kindheit meint, die in herrliche Bilder gefasst sind: »ein Vater / nicht Säer noch Treidler heuerte Teer auf / ein Dach, Labsal für Plutonisten, / ich hielt / den Augenblick in einer Trosse / Raupe fest, presste sie zu / einem Schmetterling und tat ihn / in meine Lade«. Das Kind, welches das dicke Seil der väterlichen Arbeit sieht. Die dicke, vielleicht aus Stahl gemachte Trosse, welche zugleich der kleine, verletzliche Raupenkörper sein könnte. Die Raupe, welche gewaltsam zerdrückt wird, damit aus dem Tod der Raupe der Schmetterling entstehen kann. Der Schmetterling, welcher schließlich Souvenir im Kabinett der Erinnerung wird für das Heranwachsen, aber auch eben für diesen einen Moment, da das Kind der Arbeit des Vaters beiwohnte.

Aber Ron Winkler übt sich nicht nur in der Observanz jenes Rituals, welches für fast alle ostdeutschen Lyriker (im Gegensatz zu anderen deutschsprachigen Lyrikern) typisch ist: die Reflexion auf die Causa DDR als Herkunftsdiskurs auf historischer Folie. Ebenfalls virtuos in »Prachtvolle Mitternacht« sind aber die boy meets girl Gedichte.

Verklebte Nacht

Liebesgedichte: Solche Venussonden wollen eine angemessene Stimmung, wie sie etwa in »Gesang der Feen« zu finden ist. Wir können aber, um Liaisons mit Depression stabil zu halten, keine Romanzen erwarten, wie sie am Bug der Titanic stattfinden: »der letzte Wald vor unserem Herzen, man hat ihn gut / verschnürt. / die Rehe haben Haifischhaut, denn es gibt viele Jäger, / die man auch leicht erkennt / an der Verborkung ihrer Seelen«. Die ansonsten zarten Rehe sind verhärtet, sie sind mit Schuppen gepanzert, ihre Seelen von einer brüchigen Kruste überzogen.

Ein häufiges Kompositionsprinzip, das Winkler anwendet, ist die eklektische Einbeziehung von Vokabeln aus Fachsprachen: hier z. B. »Verborkung« aus der Medizin. Was aber diesen Eklektizismus nicht zum beliebigen Würzen mit Wortmaterial macht, ist die semantische Produktivität, die das Wort in diesem Zusammenhang entwickelt, denn die medizinische Vokabel »Verborkung« qualifiziert die »Seelen« der Rehe (oder der Jäger) nicht nur als verhärtet oder verkrustet, sondern auch als krank und therapiebedürftig.

Es folgt eine Kaskade an Enttäuschungen: »hier und dort noch von Christus ererbtes / Lametta«, will heißen, was die spirituelle Potenz des christlichen Erbes war, ist nunmehr nichtiges, billiggleißendes Dekor für Weihnachtsbäume. »Lametta. es dringt schnell / in die Inseln in uns, die wir am durchsegeln sind. reines«. Die syntaktische Einheit, die um »Inseln« ist, wird durch das Enjambement erweitert: Lametta dringt ein in uns; in uns, dort wo wir noch Inseln hatten, auf denen noch unversehrtes, auch unschuldiges, also »reines« behütet war. Das Wort »reines« wird aber im nächsten Zug wieder semantisch anders genutzt: »[…] reines / artefaktisches Glimmern in der Salbung genannten Nacht«. Nicht mehr »reines« im Sinne von Reinheit; sondern »reines« im Sinne von »lediglich«, »ausschließlich«, denn die Nacht, welche im Akt der Salbung genannt wird, glimmert bloß noch wie ein »reines« (bloßes) Artefakt. Die Nacht hat keinen Zauber mehr, was natürlich in einem Gedicht, das »Gesang der Feen« heißt, fatal ist. Die entzauberte Nacht als totes Relikt »silbern schlägt sie auf unsere Augen hernieder«.

Schließlich kommt das Gedicht zum vernichtenden Schluss: »und so versprechen wir gern, / aus unseren Mördern niemals wieder / Herzen zu machen«. Ein Versprechen kann leichtfertig gegeben werden, wenn das Versprochene von vornherein als preisgegeben und unhaltbar empfunden wird. Aber wer sind die Mörder? Sind es die Feen selbst? Sind es wir, die wir als entzauberte Leser dem Feengesang lauschen?

Mit dem »Gesang der Feen« sind dem Herzen hohe Hürden gesetzt. Wenn aber in Ron Winklers amourösen Gedichten nicht eben Feen umherhuschen oder in der verklärten Kulturlandschaft der Elbe verortet sind, dann hat der Dichter eine Präferenz für die neckischen Fernen wie etwa die alpenländische Küstenstadt Antibes in Südostfrankreich (»das will ich uns / nach Süden bringen, die Zitronenkernesterne, / die aus deinem Gleißen picken / am Rand / des Heilandeilands, das wir schon jetzt erfolgen haben«) oder irgendein County in Illinois (»vor jedem Diner auf Cowboy und ich fühlte mich, als ob«) oder in Süd- bzw. Mittelamerika. Die Verortung von Gedichten dieses Typs hat sicherlich etwas damit zu tun, dass Liebe, Zuneigung und Sex als exaltiert und kostbar, auch außergewöhnlich, inszeniert werden sollen. Sie sind häufig als Anrufung formuliert; oder die Stimme des Gedichts wird im »wir« zur kollektiven Stimme des Paars; oder aber das Gedicht ist als eine Rede an dessen fiktive Adressatin über sie selbst gestaltet: »du lagst im Gras. / du lagst im Gras der Straßen. / […] / du lagst in dem Gras, das ein Countdown war, / der bei eins verharrte« (Winkler, Berlin). Der Dichter spricht zu ihr, als ob er sie erinnern möchte an das, was sie einmal war.

Wundervoll an all diesen Gedichten ist, dass es ihnen gelingt ihre etwas sentimentale, etwas nostalgische, etwas romantisierende Mentalität zu fassen in einem Netz, das ganz durch poetische Rationalität getragen wird. Jene Empfindungen, Erfahrungen, auch Erlebnisse und Gedanken, die den Rohstoff dieser stark ans biographische Subjekt des Autors rückverwiesenen Texte bilden, sind stilvoll gebrochen und gesättigt mit dem, was man die Bewegung der poetischen Vernunft nennen könnte. Unbedingt lesen!

»Prachtvolle Mitternacht« von Ron WinklerPrachtvolle Mitternacht
Ron Winkler
deutsch
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013
104 S.
€ 18.95 (Gebunden)

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Diese Rezensionen werden Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Gedichtbände: »duktus operandi« (2010), »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Er ist ebenfalls Übersetzer und Mitherausgeber der internationalen Ausgabe der Lyrikzeitschrift DAS GEDICHT (»DAS GEDICHT chapbook. German Poetry Now«). Soeben erschienen ist »Am Ende der Zeilen | At the End of Days. Gedichte:Poetry«.

  1. [1]»Harke« bezeichnet ein Landwirtschaftswerkzeug zur Bodenbearbeitung mit einem Stiel, an dessen Ende eine mit Zinken versehene Leiste befestigt ist. Man könnte auch »Rechen« sagen.
  2. [2]Johann Wolfgang von Goethe: Prometheus (1774): »Bedecke deinen Himmel, Zeus, / Mit Wolkendunst! / Und übe, dem Knaben gleich, / Der Disteln köpft, / An Eichen dich und Bergeshöh’n! / Mußt mir meine Erde / Doch lassen steh’n, / Und meine Hütte, /Die du nicht gebaut, / Und meinen Herd, / Um dessen Glut / Du mich beneidest. // Ich kenne nichts Ärmeres / Unter der Sonn’ als euch Götter! / Ihr nähret kümmerlich / Von Opfersteuern /Und Gebetshauch / Eure Majestät / Und darbtet, wären / Nicht Kinder und Bettler / Hoffnungsvolle Toren. // Da ich ein Kind war, /Nicht wußte, wo aus, wo ein, / Kehrt’ ich mein verirrtes Auge / Zur Sonne, als wenn drüber wär / Ein Ohr zu hören meine Klage, / Ein Herz wie meins, / Sich des Bedrängten zu erbarmen. // Wer half mir / Wider der Titanen Übermut? / Wer rettete vom Tode mich, / Von Sklaverei? / Hast du’s nicht alles selbst vollendet, / Heilig glühend Herz? / Und glühtest, jung und gut, / Betrogen, Rettungsdank / Dem Schlafenden dadroben? // Ich dich ehren? Wofür? / Hast du die Schmerzen gelindert / Je des Beladenen? / Hast du die Tränen gestillet / Je des Geängsteten? / Hat nicht mich zum Manne geschmiedet / Die allmächtige Zeit / Und das ewige Schicksal, / Meine Herren und deine? // Wähntest du etwa, / Ich sollte das Leben hassen, / In Wüsten fliehn, / Weil nicht alle Knabenmorgen- / Blütenträume reiften? // Hier sitz’ ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sei, / Zu leiden, weinen, / Genießen und zu freuen sich, / Und dein nicht zu achten, / Wie ich!«

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