Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).
Dem regelmäßigen Leser dieser Kolumne dürfte nicht entgangen sein, dass es in der letzten Folge Neugelesen auch um einen Divan ging: Der Diwan des persischen Dichters Mohammed Schemsed-Din Hafis. Freilich ist das kein Zufall. Johann Wolfgang von Goethe kannte Hafis Gedichte sehr genau und sah in ihm eine verehrte Größe:
„Und mag die ganze Welt versinken,
Hafis mit dir, mit dir allein
Will ich wetteifern! Lust und Pein
Sei uns, den Zwillingen, gemein!
Wie du zu lieben und zu trinken,
Das soll mein Stolz, mein Leben sein.
Du bist der Freuden echte Dichterquelle
Und ungezählt entfließt dir Well’ auf Welle.
Zum Küssen stets bereiter Mund,
Ein Brustgesang, der lieblich fließet,
Zum Trinken stets gereizter Schlund,
Ein gutes Herz, das sich ergießet.“
Vier- bis fünfhundert Jahre hat es gedauert, bis Goethe den Gedichten von Hafis zu einigem Ruhm im deutschen Sprachraum verhalf. West-östlicher Divan ist keine Reverenz durch die Blume, sondern offengelegte Verehrung eines Dichterfürsten aus einer scheinbar fremden Welt. Nur von Fremdheit ist in Goethes Divan nichts zu spüren. Ist vielmehr das, was Goethe selbst in einen Vers fasst; ein Gespür hierfür: „So wunderbar ist das Leben gemischt“!
2019, zweihundert Jahre nach Erscheinen des Divans, erfährt er wieder große Aufmerksamkeit. Das war nicht von Beginn an so. Goethes Divan wurde allzu häufig allzu schnell zu seinem eher schwer zugänglichen Spätwerk ad acta gelegt – so liest man in der Forschungsliteratur. Ich könnte mir kaum eine unpassendere Verortung einfallen lassen. In seinem losen Zusammenhang versprühen die Gedichte nämlich in ihrer Vielfalt eine gewisse Einfachheit. Hier wird keine Erhabenheit herauf beschworen; hier gibt häufig Ironie den Ton an:
„Ob der Koran von Ewigkeit sei?
Darnach frag‘ ich nicht!
[…]
Daß aber der Wein von Ewigkeit sei
Daran zweifl ich nicht;“
So zitiert er Muley, einen muslimischen Dieb. Heinrich Heine und Karl Krolow haben diese Leichtigkeit erkannt und mit großen Würden hervorgehoben. Die Themenvielfalt ist ähnlich wie bei Hafis sehr breit, mit dem Zusatz, dass christliche und islamische Mystik in einen Dialog kommen, der lange Zeit – vielleicht sogar bis heute – nur wenig Nachahmung gefunden hat. Wenn also bestimmte Sprecherinnen und Sprecher einschlägiger Parteien auf den Erhalt deutscher Literatur pochen, dann wirkt das vor Goethes Divan wie eine Posse. Kulturen müssen nicht aufeinander prallen, sondern ins Gespräch kommen. In der Heiterkeit dieser Verse liegt die Tiefe verborgen, die eine Ironie hervorbringt, in der niemand gekränkt vom jeweils anderen den Kopf zu schütteln braucht. So funktioniert eine intellektuelle Leichtigkeit, die keineswegs elitär ist. Goethe beweist mit dem Divan einmal mehr seine Wandelbarkeit und sein Feingefühl. Man darf zurecht sagen, obwohl er vielen Schulkindern sehr schnell durch den Unterricht verdorben wird: Unterschätze niemals Goethe!
Doch die hier vorgestellte Ausgabe aus dem Insel Verlag hat noch etwas mehr anzubieten. Sie ist erweitert um Goethes eigene Einführung „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans“. Es ist eine Reise durch die Perspektiven, die Goethe dazu bewegt haben, den Divan in seiner vorliegenden Form zu verfassen.
„Wer das Dichten will verstehen
Muß ins Land der Dichtung gehen;
Wer den Dichter will verstehen
Muß in Dichters Lande gehen.“
Diese Verse stellt er seiner Einführung voran. Er spricht darin von dem Aufbau arabischer Gesellschaft, von Hafis und anderen Dichtern, von Gedichtformen im Vergleich, der Entwicklung des Christentums, des Islams, über Geschichtliches und vieles mehr. Es ist wie eine Art der für Leserinnen und Leser aufbereiteten Stoffsammlung. Flankiert wird der Band von drei Aufsätzen zum Divan von Karl Krolow, Oscar Loerke und Hugo von Hofmannsthal. Es ist in der Tat eines dieser Bände, über die man viel zu viel zu sagen hätte, obwohl die Gedichte von ganz allein sprechen. Manchmal geschieht es, dass ein arabischer Name oder Ausdruck auftaucht, den man nicht zuordnen kann. Davon darf man sich nicht verunsichern lassen, denn das Weiterlesen lohnt sich. Nach zwei Jahrhunderten ist diese Gedichtsammlung heute nötig wie lange nicht mehr. So möchte ich mit dem letzten Gedicht des Divans schließen:
Gute Nacht!
Nun so legt euch, liebe Lieder,
An den Busen meinem Volke
Und in einer Moschus-Wolke
Hüte Gabriel die Glieder
Des Ermüdeten gefällig;
Daß er frisch und wohlerhalten,
Froh wie immer, gern gesellig,
Möge Felsenklüfte spalten,
Um des Paradieses Weiten,
Mit Heroen aller Zeiten,
Im Genusse zu durchschreiten;
Wo das Schöne, stets das Neue,
Immer wächst nach allen Seiten,
Daß die Unzahl sich erfreue.
Ja, das Hündlein gar, das treue,
Darf die Herren hinbegleiten.
Johann Wolfgang von Goethe
West-östlicher Divan
insel taschenbuch
Softcover, 402 Seiten
ISBN 978-3-458-36234-0
David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.