Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.
Am 1. September 1915 ist August Stramm in Galizien, bei der Schlacht von Horodec, gefallen. Hundert Jahre nach seinem Tod wird daran sicherlich in vielen Feuilletons erinnert werden. Obwohl zu seinen Lebzeiten nur ein einziger Lyrikband mit 31 (!) Gedichten erschienen ist, gehört er zu den großen, stilbildenden Autoren des deutschen Expressionismus und war in seiner Art zu schreiben moderner und vor allem kompromissloser als die meisten literarischen Kollegen. Dabei erstaunt, ja erschreckt die gewaltige Diskrepanz zwischen der bürgerlichen Laufbahn des Reservehauptmanns und Postinspektors, der mit einer Arbeit über »Das Welteinheitsporto« promoviert hatte, und dem resoluten, alle Konventionen hinter sich lassenden Sprachzertrümmerer. Wenige Jahre vor dem Kriegsausbruch stößt Stramm in der Berliner Szene zu der Gruppe um Herwarth Walden, dessen expressionistische Halbmonatsschrift »Der Sturm« bald tonangebend war, weil sie bildende Künstler, Literaten und Theoretiker des kulturellen Aufbruchs zusammenbrachte und sich gleichzeitig selbstbewusst in die internationale Avantgarde einreihte. Hier, unter der Anleitung seines Freundes und Mentors Walden, legte sich Stramm jene experimentelle Furchtlosigkeit zu, die seine Gedichte, zum Teil auch seine (längst vergessenen) Bühnenstücke so einzigartig macht.
Den Band oder besser das Heft »DU – Liebesgedichte« habe ich eher zufällig aus dem Regal gezogen, als der Gedenktag näherkam. Die unscheinbare, an den Rändern schon stark vergilbte, einer ärmeren Zeit entstammende Broschur ist 1922 gedruckt worden und im Impressum als »vierte und fünfte Auflage« ausgewiesen. Auch wenn die Lyrikauflagen damals ähnlich klein waren wie heute, lässt das doch schon früh auf ein gesteigertes Interesse an August Stramm schließen. Sein Kriegstod blieb in Erinnerung , aber mehr noch interessierte seine Wort-Kunst, an der sich viele Autoren schulten: beginnend mit den expressionistischen/dadaistischen Zeitgenossen Kurt Heynicke und Franz Richard Behrens, Kurt Schwitters, Otto Nebel und Alfred Döblin – bis hin zu Paul Celan Jahrzehnte später. Das alles mag heute Literaturgeschichte sein, freilich eine nach wie vor lebendige und erschütternde. Am 14. Februar 1915, im Stellungskrieg an der Westfront, schildert Stramm, wie er nachts das Paket mit seinem ersten Gedichtband öffnet: »…in einem Erdloch liegend, damit es nicht naß wurde. Und ein erstohlenes Kerzenlicht dazu vor das sich mein Bursche legen mußte, damit es für den Feind kein Zielpunkt wurde mit seinem Schein. Und dann aus der Feldflasche Kaffee über die Finger gegossen oder Fingerspitzen um es nicht zu sehr zu beschmutzen. Ich glaube es sind nur wenige Liebesgedichte zum erstenmal so geöffnet worden.« In der Idyllik der brieflich festgehaltenen Szene ist das Grauen anwesend, wie überhaupt Stramms Briefe vor allem an das Ehepaar Walden zu den großen literarischen Dokumenten aus dem Ersten Weltkrieg gehören. Mit ihren harten Kontrasten, dem Pathos der Verzweiflung und den alptraumartigen Bildsequenzen kann man sie, was Jeremy Adler getan hat, in den stärksten Passagen durchaus als »Prosagedichte« charakterisieren.
Der erste Lyrikband von August Stramm enthält ausschließlich Liebesgedichte. Er ist wesentlich ein Produkt der Friedenszeit, die bei seinem Erscheinen nur noch ein erinnerter Traum war. Die ungleich härteren Kriegsgedichte, für die der Autor berühmt wurde, sind erst in dem posthum herausgekommenen Band »Tropfblut« enthalten. Jeder unvoreingenommene Leser, der sich zuerst die Titellungen im Inhaltsregister von »DU« vornimmt, erwartet – bis auf das für den Expressionismus fast obligatorische Gedicht über das »Freudenhaus« – eine eher konventionelle Beziehungslyrik mit den dafür typischen Gefühlsschattierungen und Stadien. Vielleicht wird dieser Eindruck noch verstärkt durch die Anordnung der Gedichte, die August Stramm seinem Freund Walden überlassen hat; hier nur ein Ausschnitt: »Vorübergehn / Erhört / Traum / Zwist / Verzweiflung / Schwermut / Heimlichkeit / Mondschein«. Wer sich auf die Texte einlässt, erlebt dann das genaue Gegenteil: die beinahe durchgängige Demontage der herkömmlichen Syntax mit Neukonstruktionen des Wortmaterials, durch die Stramms Gedichte in die Nähe der gleichzeitig einsetzenden abstrakten Malerei rücken. Manches davon hat August Stramm bei Marinetti und im zeitgenössischen kulturellen Diskurs gelernt. Jedenfalls stand für ihn fest, dass das Wort selbst am Schöpfungsakt teilnehmen muss – also wurde es (beileibe nicht willkürlich, sondern sehr zielbewusst!) verändert. Ähnliches gilt für die Interpunktion (die zuhauf eingesetzten Ausrufezeichen!), für die vorzugsweise verwendeten Parallelsätze, die Zeilenabbrüche und den stakkatohaften Rhythmus. Stramm war ein großer Wortneuerfinder und benützte dazu die bürgerliche Literatursprache als Materialhalde. Dadurch wurde er, ohne es zu ahnen, zu einem wichtigen Wegbereiter der Konkreten Poesie. Für all das liefern die »Liebesgedichte« beeindruckende Beispiele, aus deren Fülle ich nur wenige herausgreifen kann: »Scheu / Im Winkel / Schamzerpört / Verkriecht sich / Das Geschlecht« (Freudenhaus). Oder: »An Deinem Fenster / Eist / Ein Windhauch Asche« (Vorübergehn). Oder: »Durch schmiege Nacht / Schweigt unser Schritt dahin« (Abendgang).
»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).
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