Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.
Die Jahre 1910 bis 1914 waren – literarisch gesehen – eine Zeit des Aufbruchs. Die jungen Schriftsteller, die jetzt auf sich aufmerksam machten oder besser: mit brachialer Gewalt die Bühne stürmten, wechselten abrupt die bis dahin üblichen Themen und Inhalte. Gleichzeitig schufen sie eine neue Sprache mit provozierenden Bildern. Was einmal feinziselierte Dichtung gewesen war, wurde plötzlich zum Störfaktor, verstand sich als Rebellion gegen die satte Bürger- und Adelswelt. Eine Sturmflut an wilden, apokalyptischen Versen spülte die rückwärtsgewandten Idyllen hinweg. Großstadt-Szenarien widerriefen das beschauliche Leben in ästhetisch austarierten Räumen. Alfred Lichtenstein, der Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie, geboren am 23. August 1889 in Wilmersdorf (damals noch kein Stadtteil von Berlin), gehörte nicht zu den Revoluzzern der ersten Stunde. Was von seinen ab 1908 entstandenen, frühen Gedichten erhalten blieb, ist entweder nah am Volkston (»Ich bin doch nur ein Alltagskind…«) angesiedelt oder hätte im Berliner Kabarett reüssieren können, wobei Lichtenstein zeitlebens, beeinflusst wohl durch Frank Wedekind, am frechen chansonhaften Charakter seiner Texte festhielt und eine Anti-Spießer-Attitüde pflegte. Aufhorchen lässt schon in den Anfangsjahren die harsche Zurückweisung jeder traditionalistischen, sprachlich kultivierten Literatur, die er als dekadent empfunden haben mag. Das »Komische Lied«, das er 1910 dem längst vergessenen Felix Dörmann »zugeeignet« hatte, drückt seine Aversion unmissverständlich aus: »Ich hasse die farblose Feinheit / Erklügelter Nervenkultur. / Ich liebe die bunte Gemeinheit / der schamlosen, nackten Natur.« Noch direkter, noch wüster formuliert das Gedicht auf den »Barbier des Hugo von Hofmannsthal« die Distanzierung von einer sorgfältig eingehegten, feinsinnigen Welt. Die Absage an das alte System endet im Blutrausch: Das höflich lächelnde Opfer der vornehmen Herren, schwingt sich zum (erträumten) Täter auf, weil es unentrinnbar in sein verworrenes Dasein eingezwängt ist.
Als ich in meiner Lyrikbibliothek nach Büchern von Alfred Lichtenstein Ausschau hielt, stieß ich zuerst auf die »Große Mausefalle«. Der Band war 1996 im Berliner Eulenspiegel Verlag erschienen und hatte seinen Titel bei dem Gedicht »Sommerfrische« entliehen: »Friedliche Welt, du große Mausefalle«. In diesem Gedicht ist die Erde »ein fetter Sonntagsbraten« und der Dichter wünscht sich verständlicherweise einen Sturm, der »den schönen blauen / Ewigen Himmel tausendfach zerfetzt«. Solche bewussten Provokationen verharmlost das Buch, wenn es sich mit dem Untertitel »Groteske Gedichte« schmückt und so Lichtenstein auf ein literarhistorisches Genre festlegt, in das sich expressionistische Lyrik nur zwangsweise eingemeinden lässt. Denn die vermeintlich grotesken Bilder haben eine ganz andere Legitimation: Sie wollen die enge, philiströse Wirklichkeit weiten und stehen in ihrem befreienden Hochmut dem wenig später einsetzenden Surrealismus nahe. Hinzu kommt, dass der brutale Gestus der Illustrationen von Henning Wagenbreth eher zudeckt, was die Gedichte Lichtensteins in ihrem Innersten ausmacht. Der Autor schrieb sie nämlich häufig mit einem ironischen Augenzwinkern, wobei die illusionslose Nonchalance ihre Herkunft von den Kabarettbühnen und aus dem Cafe‘ des Westens am Kurfürstendamm verrät. Viele Bizarrerien der Gedichte scheinen mir deshalb eher dem exzentrischen Berliner Stadtklima geschuldet, das Lichtenstein erlebt (oder fingiert hat), als einem literarisch reflektierten Programm. Das Spöttische ist außerdem unverkennbar dem Sentimentalen verschwistert. Weitaus lieber greife ich darum zu den »Gesammelten Gedichten«, die Klaus Kanzog 1962 im Zürcher Verlag der Arche herausgegeben hat. Dort sind – im handlich-sympathischen Querformat philologisch kommentiert und chronologisch geordnet – alle Gedichte des Autors enthalten. 1989 gab es dann zusätzlich, wiederum im Verlag der Arche, eine Gesamtausgabe der Dichtungen, erschienen in der verdienstvollen Reihe »Editionen des Expressionismus«, die freilich eher für germanistische Seminare und wissenschaftliche Bibliotheken gedacht war.
Ab 1912 publizierte Alfred Lichtenstein in den wichtigsten Zeitschriften, die der geistig-künstlerischen Avantgarde als Podium dienten. So kam er regelmäßig zu Wort in Herwarth Waldens »Der Sturm« und in der »Aktion« von Franz Pfemfert, aber auch im »Simplicissimus«. Eine erste Sammlung mit Gedichten von ihm hat dann Alfred Richard Meyer im Frühjahr 1913 unter dem Titel »Die Dämmerung« in seinen »Lyrischen Flugblättern« herausgebracht und im Herbst des gleichen Jahres folgte ein zweites Gedichtheft bei Pfemfert. Damit war, so schien es, der literarische Durchbruch geschafft. Vor allem an dem Gedicht »Die Dämmerung« wurde schon bald die frappante Nähe zum »Weltende«-Stil des Jakob van Hoddis diagnostiziert. Dabei hat Lichtenstein gerade an diesem Gedicht seine ganz persönliche Verfahrensweise und damit seine poetische »Handschrift« erklärt, die ihn vom Verdacht des Plagiats freispricht: »Absicht ist …, die Reflexe der Dinge unmittelbar – ohne überflüssige Reflexionen aufzunehmen.« Also lässt der Dichter in seinem Gedicht nur das Sprache werden, was er sieht: den schreienden Kinderwagen, nicht das Kind und die fluchenden Hunde, nicht den Hundehalter. Lichtenstein, der ein »spielerischer Apokalyptiker« war, hatte wie viele seiner expressionistischen Kollegen ein Gespür für die unterdrückten Spannungen in der Gesellschaft, die dunklen Seiten der »Zylinderherren«, die jäh aufschießende Grausamkeit an den Sonntagnachmittagen (»Ein Mann zertrümmert eine morsche Frau«). In seiner Welt bringt ein Auto, manchmal sagt er auch »eine Autodroschke«, ein Mädchen um und eine Pflegerin genießt bei einer Operation, während »der offene rote Leib« der Operierten klafft, »sehr innig sehr viel Wurst im Hintergrund«. Das ist ein absichtlich grell gesetzter Effekt, der in deutlichem Gegensatz steht zu ungleich poetischeren, wenn auch herben Bildern, wie sie Lichtenstein vor allem für den Himmel gebraucht: »Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich, / Als wäre ihm die Schminke ausgegangen« heißt es in dem schon erwähnten Gedicht »Die Dämmerung« und das Gedicht »Landschaft« beutet sogar den schäbigen Alltag für eine ungewöhnliche Metapher aus: »Der Himmel ist ein graues Packpapier, / Auf dem die Sonne klebt – ein Butterfleck.«
Die expressionistische Vorkriegsliteratur trägt den Abgrund in sich. Immer wieder versucht sie, die Menetekel an der Wand zu lesen. Das Unheil kommt als Ahnung daher, als Prophetie: als Schein am Horizont »wie ein Schrei«, der »Entsetzen und nahes Ende« verkündet, so in Lichtensteins Gedicht »Unwetter«. Ein »Sterbesturm« fegt durch die Welt: »Alles nimmt ein ekles Ende. / Krächzend kippen die Omnibusse.« Der große Krieg freilich, der so furchtbar droht, wird eher als willkommener Kontrast zur lähmenden, erstickenden Friedenszeit empfunden. Deshalb kann bei Lichtenstein ein Generalleutnant im Brustton der Überzeugung verkünden: »Wäre doch endlich ein Krieg / Mit blutigen, brüllenden Winden. / Das gewöhnliche Leben / hat für mich keine Reize.« Das ist sicherlich die satirisch gemeinte Karikatur eines hirnlosen Militaristen. Aber es spiegelt auch die Sorglosigkeit einer Generation, die sich nach einer anderen, neuen Welt sehnte und sei es um den Preis der Katastrophe. Wie viele Künstler fiel Lichtenstein schon kurz nach Beginn des Krieges, am 25. September 1914. Dabei hatte er doch noch im »Gebet vor der Schlacht« seine Angst hinter einem saloppen Wunsch an Gott versteckt: »Schick mir einen leichten Beinschuß, / Eine leichte Armverletzung, / Daß ich als ein Held zurückkehr, / Der etwas erzählen kann.« Trotzdem war auch für Lichtenstein das Grauen nicht mehr weit: »Wie schlechte Lappen qualmen / Die Dörfer am Horizont.«
»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).
Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.