Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.
Erst sehr spät, in den 70iger Jahren, ist Ernst Meister, der Lyriker und Maler, aus dem literarischen Niemandsland aufgetaucht. Seine letzten drei Gedichtbände – »Sage vom Ganzen den Satz« (1972), »Im Zeitspalt« (1976) und »Wandloser Raum« (1979), allesamt bei Luchterhand erschienen – verschafften ihm eine Aufmerksamkeit, die den Autor selbst überrascht haben mag. Kurz bevor er mit dem Büchner-Preis die wichtigste literarische Auszeichnung unseres Landes entgegen nehmen konnte, starb Ernst Meister im Juni 1979. Bald danach flaute das Interesse an seinem Werk wieder ab. Er geriet in den Ruf eines Klassikers der deutschen Moderne, dessen Lyrik am ehesten noch von Literaturwissenschaftlern und Literaturstudenten gelesen wurde. Vielleicht rührte das daher, weil seine Texte durch denkfaule Interpreten zu oft als hermetisch eingestuft worden sind. Vielleicht auch, weil die radikale, philosophisch und existentiell begründete Auseinandersetzung mit dem Tod Meisters Poesie bis heute verschattet und als grüblerisch erscheinen lässt. Da nützte und nützt es wenig, dass die »Poetologie des Todes«, die ihm zugeschrieben wird, eher dem Leben zugewandt ist und genau daraus ihre Kraft für klare, schmerzgenaue Bilder bezieht. Der Auswahlband mit Gedichten, den Handke in der Bibliothek Suhrkamp herausgab, dokumentiert diese einzigartige Stärke von Ernst Meister. Trotz des prominenten Fürsprechers blieb das Büchlein ähnlich unbeachtet wie die 17bändige Reihe »Sämtliche Gedichte«, die zwischen 1985 und 2007 bei Rimbaud in Aachen herauskam. Auch die wissenschaftlich fundierte, textkritische und kommentierte Ausgabe in fünf Bänden, von Wallstein in Göttingen publiziert, hat daran kaum etwas geändert: Ernst Meister, so scheint es, steht mit seinem lyrischen Werk erratisch, das heißt aber auch: weitgehend folgenlos in der zeitgenössischen Literaturlandschaft. Zu viele Vorurteile und Vorfestlegungen hegen es ein, zu oft wurde diesem Werk unterstellt, dass es seinen Lesern eine hohe Anstrengungsbereitschaft abfordert und sich, wenn überhaupt, lediglich partiell aufschließt.
Befrachtet damit, habe ich – das gebe ich zu – den Band »Im Zeitspalt« nur zögernd aus dem Regal genommen. Das Buch wurde von mir kurz nach Erscheinen gekauft, als Ernst Meister noch in jedem Feuilleton Beachtung fand. Seine sehr suggestive Sprache mit den gedanklich zugespitzten Bildern, dieser Eindruck drängte sich mir bei der Lektüre rasch auf, hat seit dem Jahr der Erstpublikation nichts von ihrer spröden Unerbittlichkeit verloren. Sie ist merkwürdig zeitfern und doch existenznah geblieben. Ein Gespräch zwischen Ernst Meister und Jürgen P. Wallmann führte mich auf die Spur des Titels und erläutert ihn. »Im Zeitspalt« – das ist die verschwindend geringe, geradezu marginale Spanne unseres eigenen Lebens zwischen der »Ewigkeit vorher« und der »Ewigkeit danach«. Ernst Meister beruft sich dabei auf ein berühmtes Zitat von Blaise Pascal: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern« – ein Satz übrigens, den wenige Jahre zuvor Thomas Bernhard seinem Roman »Verstörung« vorangestellt hatte. Ernst Meister, der ursprünglich Theologie und später Philosophie studiert hatte, wandte sich schon früh von allen religiösen Tröstungen ab. Er beharrte kompromisslos darauf, dass über unsere Erkenntnis, unser Bewusstsein, irgendwann das Ende »verhängt« ist. Dann wird alles, was wir denken, »vertilgt«. Für den Dichter Ernst Meister bedeutet das: »Ich muß die Dinge jetzt verstehen von ihrer Vernichtbarkeit her.« Das ist jedem Gedicht des Bandes »Im Zeitspalt« eingeschrieben, gelegentlich auch etwas plakativ, beispielsweise in den Zeilen »Lang oder kurz ist die Zeit, / und das Wahre, / das sich ereignen wird, / heißt Sterben.« Oder es gerät – wie im titelgebenden Gedicht des Bandes – zu einer jener aphoristischen Verdichtungen, für die Ernst Meister, der Stilist, zu Recht gerühmt wird: »Im Zeitspalt / ein Gedanke gewesen, / bis der Ewigkeitsschrecken / ihn umwarf. // Was folgt, / ist nicht Schlaf, / sondern Skelett. // Das wissen/ die Verständigen aber.«
Diese Gedichte leben fast immer von einer ungeheuren Spannung, die sich nicht auflösen lässt: »Der Niemand steht am End« jeden Lebens und doch muss vor dem Ende gelebt werden. Solcher Einsicht verdanken sich auch viele Liebesgedichte von Ernst Meister, die vielleicht gerade deswegen zu den schönsten in der deutschen Lyrik zählen: »Noch bist du, Liebes, / meine Wohnung.« Unüberhörbar ist in den Gedichten die Zärtlichkeit als Gegenbewegung zum Mahlstrom des unendlichen Nichts, wenn der »Gedankensohn« beispielsweise vor dem Grab der Eltern steht oder wenn »Lebendiges sich sieht / im Gehn.« So verwundert es nicht, dass sich der Leser der Gedichte sehr oft die Frage stellt: Wie lässt sich aushalten, was so final zugespitzt wird? Eine Antwort darauf geben vielleicht die ersten, vielzitierten Verse des Bandes, ein Sonnengesang, der durch seine Kürze überrascht, dadurch jedoch umso gewaltiger wirkt. Da springt aus der engen Pforte die große Glut – und wird gebändigt durch einen Satz, der im Leser noch lange nachwirkt: »Ich weiß / nichts Dunkleres / denn das Licht.« Dichotomien sind kennzeichnend für das Werk von Ernst Meister. Man sollte sie nicht deuten, sondern ihnen meditativ nachspüren.
»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).
Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.