Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.
Bei Dichtern, die jahrzehntelang die Lyrikszene geprägt haben, scheint sich der immer gleiche Vorgang zu wiederholen: Zuerst sind ihre Gedichte in den zeitgenössischen Lesebüchern und Lyriksammlungen prominent vertreten, danach kommen sie in diversen Auswahlbänden auf den Markt und schließlich, wenn die Lyriker zu ihrer Zeit sehr bekannt gewesen sind, vielleicht auch in einer textkritisch erstellten Gesamtausgabe. Häufig endet dann die Rezeption der Dichter bis zu einer Wiederentdeckung, die freilich in keiner Weise prognostizierbar ist. Oskar Loerke (1884 – 1941) gehört zu diesen einst vielgerühmten, heute nur noch den Spezialisten bekannten Lyrikern. Wenn überhaupt, finden sich in neueren Anthologien noch zwei oder drei Texte von ihm, in der Regel die Pompeji-Gedichte mit ihrem abendländisch-antiken Flair, dagegen kaum jemals die Berliner Großstadtgedichte, die sich dem Expressionismus verdanken. Ich habe auf der Suche nach dem Dichter zunächst in meiner eigenen Bibliothek gestöbert und bin fündig geworden mit den Bänden »Die heimliche Stadt« (S. Fischer Verlag, Berlin 1921) und »Der Silberdistelwald« (S. Fischer Verlag, Berlin 1934). Zu Lebzeiten Loerkes sind nur sieben Lyrikbücher von ihm erschienen (sein »Siebenbuch«, wie er es nannte). Danach wurde es still um den Berliner Autor. Den nachgelassenen Texten – seit 2010 in der zweibändigen, editorisch verlässlichen Gesamtausgabe der Dichtungen beim Wallstein Verlag (der Wüstenrot-Stiftung sei Dank!) zugänglich – kann man entnehmen, wie sehr die Nazizeit Oskar Loerke, den hochgebildeten, ehemaligen Lektor des S. Fischer Verlags, in Verzweiflung gestürzt hatte. Das unterscheidet ihn von Autoren, die sich später selbst unter der Etikette der »Inneren Emigration« exkulpierten. Trotzdem kam auch Loerke im perversen Goebbelschen Kulturregime nicht ohne Kompromisse aus. Das fiel ihm zwar schwer, aber dabei half, dass seine Lyrik schon immer einen eskapistischen, zeitfernen Grundzug hatte. Loerke bewegte sich gern in entlegenen, von ihm nie bereisten Gegenden »hinter asiatischen Bergen«. Gleichzeitig war er ein Naturmystiker, der sich seinem Freund Wilhelm Lehmann innerlich verwandt fühlte. »Ich lernte bei Dir«, so schrieb er im Nachwort zum »Silberdistelwald«, »das immer geschehende Jüngste Gericht gewahren – im Dasein des Grünen Gottes (kühler und weniger bestimmt gesagt: der Natur).« Solche Sätze muten heutzutage eher fremd an. Sie markieren die sprachliche und geistige Kluft, die uns inzwischen von Dichtern wie Oskar Loerke trennt.
Günter Eich, der dem Lyriker eng verbunden war, hat 1963 in der Bibliothek Suhrkamp eine Auswahl mit Gedichten Loerkes vorgelegt. Sie ist heute noch leicht greifbar und zum Lektüreeinstieg geeignet, obwohl das Schwergewicht der Sammlung eher auf den späteren Gedichten liegt. Wer den Expressionisten Loerke kennenlernen möchte, sollte zunächst – im Internet mühelos aufzufinden – das programmatische Manifest »Von der modernen Lyrik« lesen, das erstmals 1912 erschienen war und die künstlerisch »gewalttätige« Aufbruchsstimmung vor dem Ersten Weltkrieg einfängt. »Wir wollen die Großstädte, die Weltstädte dichten, die beinahe so jung sind wie wir«, heißt es dort. Von diesen Forderungen ist es ein langer, bei Loerke jedoch überraschen kurzer Weg bis zu den formal strengen, häufig schwermütigen Liedern, den melodiösen Klagegesängen und schließlich den schneidend klaren Versen des Gedichts »Zweierlei Flug«: »Mein großes Hauptgeschäft der Trauer / Ist nicht für dich.« Die Realien werden in Loerkes Gedichten eher vernachlässigt, aber es gibt sie durchaus. Da beobachtet er in den leeren Wartesälen Kellnerinnen, die »über Bücher stricken« (»Kleiner Bahnhof«) oder nackte Bäume erinnern den Dichter an die »Besen der Arbeitslosen« (»Berliner Winter«). Dagegen verlieren die pathetisch aufgeladenen Gedichte mit ihrer Wortmusik rasch an Glanz, wenn sie gehäuft gelesen werden. Viel zitiert wurde zu ihrer Zeit die elegische »Pansmusik« (»Heute fährt der Gott der Welt auf einem Floße, / Er sitzt auf Schilf und Rohr, / Und spielt die sanfte, abendliche, große, / Und spielt die Welt sich vor.«) oder die »Wiederkehr« (»Ach still, ich rufe aus den Katafalken / Der Welt den toten Herrn doch nicht nach Haus.«). Beim Wiederlesen sind mir eher einzelne Bilder, einzelne Zeilen im Gedächtnis geblieben, die sich dem zitathaften Gestus verweigern und einfach für sich stehen: »Das leere Blau verliert die Erde« (»Der Himmel«). Und dann gibt es noch die ergreifenden Verse über die Dichter des Dreißigjährigen Krieges, Simon Dach und Johann Rist, denen sich Loerke offensichtlich nahe fühlte. Warum – darüber lohnt es sich nachzudenken bei der Lektüre. Finstere Zeiten waren jedenfalls beide: die Hunger- und Schreckenszeit des großen Konfessionskrieges und die Tyrannei der Nationalsozialisten. 1936 erschien der letzte Gedichtband des Autors. Zwar brachte Loerke immer noch einzelne Texte in den gleichgeschalteten Medien unter, aber von seinem Publikum war er abgeschnitten und sein Werk blieb nach 1945 nur noch eine vage Erinnerung.
»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).
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