Wiedergelesen – Folge 25: »Chausseen Chausseen« und »Die Sternenreuse« von Peter Huchel

Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.

 

Peter Huchel war mit einem sehr deutschen Lebenslauf ausgestattet, der ihn schon 1927 zu der Gedichtzeile veranlasste: »Deutschland ist dunkel, Deutschland ist kalt.« Da hatte er gerade sein Studium der Literaturwissenschaft und der Philosophie in Berlin abgeschlossen. Schon seit einigen Jahren schrieb er erstaunlich reife Gedichte und reist jetzt neugierig in den Süden und den Südosten Europas, vor allem nach Frankreich, Italien, Rumänien und Ungarn, auch in die Türkei. Die kulturell tonangebenden Zeitschriften dieser Jahre, unter ihnen »Das Innere Reich«, »Die Kolonne« und die »Vossische Zeitung«, drucken seine Texte und machen seinen Namen bekannt. Bereits sehr früh wird er zu den »Naturlyrikern« gezählt, ähnlich wie übrigens Günter Eich, und für beide, die miteinander befreundet waren, ist dies eine eher irreführende Zuschreibung. Die zahlreichen Widmungen, die Peter Huchel im Laufe der Zeit seinen Gedichten voranstellte, deuten jedenfalls auf ganz andere Einflüsse und Zusammenhänge. Hier tauchen Namen wie Walter Jens, Ernst Bloch, Hans Henny Jahnn, Ludvik Kundera und Hans Mayer auf. Nach dem Kriegsdienst, den Nazijahren in eher unauffälligen Tätigkeiten und sowjetischer Gefangenschaft stieg Huchel rasch zum »Künstlerischen Direktor« des Ostberliner Rundfunks auf. Ab 1949 bis 1962 bestimmte er als Chefredakteur den Kurs von »Sinn und Form«, der renommierten, von der Partei alimentierten Literaturzeitschrift der DDR. Weil er sich aber nach wie vor als gesamtdeutscher Autor verstand und Ehrungen aus dem Westen nicht abschlug, traf ihn der Bannstrahl des Regimes mit voller Härte: Seine Post wurde beschlagnahmt und ein Publikations- und Reiseverbot gegen ihn ausgesprochen; fortan lebte er unter »Hausarrest«, bespitzelt und bewacht. Erst 1971 durfte er, nicht zuletzt auf Intervention von Heinrich Böll, in den Westen ausreisen und ließ sich mit seiner Familie in Staufen im Breisgau nieder. So viele Literaturpreise Peter Huchel zu Lebzeiten erhielt, so ruhig wurde es um sein literarisches Werk nach dem Tod des Dichters am 30. April 1981. Gelegentliche Wiederveröffentlichungen, darunter eine zweibändige Werksausgabe, die Suhrkamp im Jahr 1984 herausbrachte, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur noch wenige deutsche Lyriker unserer Zeit mit ihren Gedichten an Huchels Gedichte anknüpfen und auf seine Bildwelten antworten, sie kreativ »fortschreiben«.

Der Band »Chausseen Chausseen« erschien 1963 beim S. Fischer Verlag in Frankfurt. Er verschlüsselt, wie alle Gedichtbände Huchels, die Erlebnisse und Erfahrungen des Dichters in einem poetischen Vokabular, das nur ihm ganz allein gehörte. Christoph Meckel, ein Bewunderer, hat diese Beobachtung in der treffenden Erkenntnis gebündelt, dass kein Anderer für seine Gedichte so wenige Wörter gebrauchte wie Peter Huchel, der zu Lebzeiten lediglich fünf Gedichtbände veröffentlichte – angesichts mancher Lyriker unserer Tage mit ihrem überbordenden Schaffensdrang eine durchaus wohltuende Selbstbescheidung. Huchel war jedenfalls kein inflationär produzierender, eher ein zurückhaltender Autor, der sich aber seiner poetischen Fähigkeiten in jedem Moment des Dichtens bewusst gewesen ist. Wenn man will, kann man »Chausseen Chausseen« ein rückwärts genanntes Buch nennen, weil es, wie alle Bücher Huchels, mit großer Hartnäckigkeit, geradezu erinnerungssüchtig, die Kindheitslandschaft der Mark Brandenburg, genauer: des Havellandes heraufbeschwört. Am persönlichsten gelingt ihm das wohl in dem Gedicht »Damals«: »Sterne haben den Sommer bewacht / Am Rand der Hügel, wo ich gewohnt: / Mein war die katzenäugige Nacht, / Die Grille, die unter der Schwelle schrie.« Oder »Hinter den Ziegelöfen«: »Biege das weiße Schilf zurück, / Du stehst vor der Furt des Mittags. / Hier wird Gold gewaschen / Und auf zerbrochene Ziegel geschüttet.« Jede Beobachtung gerinnt in diesen Gedichten zu einem Bild, das im Leser nachwirkt: »Mit Katzenpfoten klettert der Epheu / Den Stamm hinauf.«

Bei Peter Huchel ist die Erinnerung meistens elegisch eingefärbt; er schreibt gegen die Verluste an, die er erlitten hat, und er beschreibt das unwiderrufliche Erwachen aus der Kindheit mit einem bitteren Geschmack im Mund: »in der Mitte der Dinge / Die Trauer.« Neben den Kindheitsgedichten stehen Reisegedichte wie die berühmten Verse über Thrakien, Landschaft des mythischen Sängers Orpheus, die auch Eingang gefunden haben in die »Frankfurter Anthologie«. Schonungslos und verstörend sind schließlich die Texte über die düstere Zeit des Krieges und die Flucht- und Hungertrecks. »Chausseen«, so das titelgebende Gedicht des Bandes, erweisen sich als »Kreuzwege der Flucht. Wagenspuren über dem Acker, / Der mit den Augen / Erschlagener Pferde / Den brennenden Himmel sah.« Stalingrad wird thematisiert. Und das Weihnachtsfest mit seiner befreienden Botschaft verkehrt sich in sein Gegenteil: »Es liegt Maria erschlagen vorm Tor.« Bei Huchel tritt Trostlosigkeit an die Stelle religiöser Tröstungen: »Nie kam im Nebel der langen Winter-chausseen / Ein Simon von Kyrene.«

Auch das Buch »Die Sternenreuse«, 1967 von Piper in München verlegt, schlägt ganz ähnliche Töne an. Das kommt wohl daher, weil es – neben zwei Gedichten aus »Chausseen Chausseen« – vor allem ältere Texte bringt. Folgt man der Nachbemerkung, handelt es sich dabei um »eine vom Verlag getroffene Auswahl, welcher Peter Huchels 1948 erschienene erste Gedichtsammlung sowie Einzelveröffentlichungen zugrunde liegen.« Erneut begegnen wir Huchels Kindheit mit Kesselflickern, den polnischen Schnittern und den Ziegelstreichern, erleben Wiepersdorf, eine Havelnacht und die »wendische Heide«. Und wieder konfrontiert uns der Dichter mit der Weihnachtsgeschichte, die er aus ungewohnten Perspektiven neu erzählt, sogar in Brechtscher Manier zum Bänkelgesang verfremdet: »Gras, Vogel, Lamm und Netz und Hecht, / Gott gab es uns zu Lehn. / Die Erde aufgeteilt gerecht, / wir hättens gern gesehn.« Sehr lange nachgegangen ist mir auch das sprachgewaltige, 1927 niedergeschriebene Gedicht »Lenz« mit seinen intensiven Zwischenstrophen: »Lenz, dich friert an dieser Welt! / Und du weißt es und dir graut. / Gott hat dich zu arm bekleidet/mit der staubgebornen Haut. / Und der Mensch am Menschen leidet.« Natürlich liegt über solchen Zeilen eine Patina, die dem Alterungsprozess jeder Literatur geschuldet ist. Die ländliche Welt, die Peter Huchel schildert, ist längst verschwunden; seine Reiseeindrücke und selbst die Schilderungen aus dem Krieg gehören einer anderen, sehr ferngerückten Zeit an. Trotzdem bleiben die eindringlichen Bilder, bleibt die Kraft einer von nur wenigen anderen Dichtern so phantasiemächtig eingesetzten Sprache.

 

Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath
Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath

»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.

Ein Kommentar

  1. Peter Huchel ist nach wie vor einer der eigenwillig-schönsten Dichter, die ich kenne. Ich glaube, hätte ich Peter Huchel nicht gelesen, dann hätte ich nie selbst angefangen zu schreiben. Dieser Dichter sollte nicht vergessen werden – vielen Dank für den Beitrag!

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